„Gimme five!“
Durchs Land der Skipetaren und die Schluchten des Balkan
Fünf Länder in vier Wochen auf zwei Rädern (Mai/Juni 2016)
Inhalt
Warnhinweis
Etappen
Prolog/Praktisches
Schwebende Klöster und tiefe Abgründe (Von Thessaloniki ins Pindos-Gebirge)
„Shqip, shqip – hurra!“ — Erste Tuchfühlung mit Albanien (Monodendri–Syri i Kalter–Finiq–Butrint)
Inselschönheit (Butrint)
Immer am Strand lang, beim U-Boot-Hafen links ab (Butrint–Porto Palermo–Llogara-Pass–Orikum–Gjirokaster)
Nasse Steine (Gjirokaster)
Jungbrunnen. Und, wie ich am liebsten mal kein Rückgrat gezeigt hätte (Gjirokaster–Benjë–Korcë)
Wo man fein lecker essen kann (Korcë Teil 1)
Ich geh ins Kloster! – Aber in welches? (Voskopojë)
Verschaffen wir uns mal einen Überblick! (Korcë Teil 2)
Hugh sei Dank! Who? Na, Hugh! – Von Wilderern und krausen Köpfen (Zaroshke/Großer Prespa-See)
Frommer Nippes und eine Dorfschönheit (Zaroshke–Sveti Naum–Lin)
Zimmer 401 (Lin–Kalaja e Bashtovës–Krujë)
„Per aspera ad after“ – Auf rauen Wegen an den Arsch der Welt (Krujë–Pukë–Fierze–Bajram Curri)
Von der Freude, langsam durch den Stau zu tuckern (Fierze–Koman-Stausee–Shkodra–Stari Bar/Montenegro)
Von wegen „schwarze Berge“! (Stari Bar/Montenegro)
Ein Bier-See und steile Felsen (Stari Bar–Pivsko-See–Durmitor–Zabljak)
Noch mehr Schluchten – aber immer nur vom Feinsten (Zabljak–Tara-Schlucht–Rugova-Schlucht/Kosova)
Verwunschene Berge, laute Untermieter – und ein mysteriöser Präsident (Rugova-Schlucht)
Mit alten Freunden durch ein neues Land (Rugova-Schlucht–Mirusha–Prizren–Prishtina)
Hoffnung für ein geschundenes Land (Prishtina–Rashan–Mitrovica)
Nur eine Stippvisite – nächstes Mal mehr: Mazedonien (Prishtina–Stobi–Dojran-See)
Hier könnte man glatt Urlaub machen … (Dojran–Chorto/Pilion-Halbinsel)
Ein paar Zahlen und Fakten
Fazit
Leserstimmen:
„Klasse wieder mal – wie eine Schachtel feines Konfekt. Man kann fast nicht aufhören.“
„Ich muss immer schmunzeln, wenn dieser kleine, auf liebenswerte Art leicht klugscheißerische Erklär-Detlev einsetzt – aber so lernt man auch gleich was fürs Leben.“
„… Chapeau! Ganz toller Bericht mit unglaublich vielen Informationen, absolut als Reiseführer geeignet … lässt sich super lesen – und ganz ehrlich: Gerade die persönlichen Bemerkungen machen die Zeilen perfekt, liebens- und lesenwert.“
„Erfahrungen eines Weltenbummlers, der seine Leser auf eine unbekannte Reise mitnimmt, … dafür herzlichen Dank!“
Warnhinweis
Achtung, der folgende Text ist lang. Seeehr lang. Wer an Textmengen in dieser hohen Dosierung nicht gewöhnt ist, sollte vor Verabreichung seinen Arzt fragen (oder sich besser gleich auf die Bilder beschränken). Aber auch für alle anderen gilt: Der Bericht ist sehr ausführlich, teilweise sehr persönlich – für manchen vielleicht langweilig. Das liegt daran, dass ich ihn zunächst nur geschrieben habe, um unserer eigenen Erinnerung aufzuhelfen. Erst als „spin off“ mag er Interessierten dienen, sich mit unseren Reiseländern vertraut zu machen und etwas reinzuschmecken. Für diese Leser hoffe ich, dass das Lesen Spaß macht, vielleicht sogar unterhaltsam ist, informativ und – im besten Fall – Appetit auf unser neues Reiseland Albanien und die Anrainer macht.
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Etappen
Thessaloniki–Pindos-Gebirge (Monodendri/Vikos-Schlucht)
Monodendri–Syri i Kalter–Finiq–Butrint
Butrint–Porto Palermo–Llogara-Pass–Orikum–Gjirokaster
Gjirokaster–Benjë–Korcë
Korcë–Voskopojë (Tagesausflug)
Korcë–Zaroshke/Großer Prespa-See
Zaroshke–Sveti Naum–Lin
Lin–Kalaja e Bashtovës–Krujë
Krujë–Pukë–Fierze–Bajram Curri
Fierze–Koman-Stausee–Shkodra–Stari Bar (Montenegro)
Stari Bar–Pivsko-See–Durmitor–Zabljak
Zabljak–Tara-Schlucht–Rugova-Schlucht (Kosova)
Rugova-Schlucht–Mirusha–Prizren–Prishtina
Prishtina–Rashan–Mitrovica
Prishtina–Stobi–Dojran-See
Dojran-See–Chorto (Pilion-Halbinsel)
Chorto–Thessaloniki
Die Bildergalerien finden sich jeweils bei den beschriebenen Orten und Gegenden.
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Prolog/Praktisches
Irgendwann musste es ja so weit kommen, so weit, dass wir unserer geliebten Türkei „adieu“ sagen müssten. Vielleicht nicht für immer, aber zumindest so lange, bis sich die politischen und damit auch gesellschaftlichen Verhältnisse wieder etwas normalisiert haben. (Es wird auch eine Zeit nach Erdoğan geben …)
Alternativen schlummerten schon länger in der Schublade, konnten sich aber noch nicht durchsetzen, weil Anatolien immer noch mit ausreichend Reizen aufwarten konnte. Armenien und Georgien hätte auch wieder viel Türkei bedeutet, Iran gleichfalls. Albanien war angedacht, aber noch etwas diffus. Nachdem sich aber die Reiseberichte von dort mehrten, kam es in die engere Auswahl, denn uns war daran gelegen, das Land noch zu bereisen, solange es noch nicht vom Pauschaltourismus überrannt wurde. Den echten Geheimtipp-Status hat Albanien nämlich schon hinter sich: Individualreisende – per Auto, Motorrad, zu Fuß, per pedes, mit WoMo oder öffentlichen Verkehrsmitteln – haben das Land schon für sich entdeckt, wiewohl man immer noch Tage erleben kann, an denen einem kein Nicht-Einheimischer begegnet. Auch Gruppenreisende sind dort schon unterwegs, die dann vor allem die kulturellen Highlights ansteuern.
Ein weiterer Grund, die Gegend endlich einmal aufzusuchen, war das Versprechen, das ich Anfang des Jahrtausends unserem kosovarischen Freund Halil gegeben hatte, nämlich, dass wir ihn, wenn es die Situation zulässt, einmal mit dem Motorrad in Kosova besuchen würden. (Ich verwende hier die von Kosovaren bevorzugte Schreibweise „Kosova“ anstelle von „Kosovo“.)
Das letzte Mal, dass ich mich mit einem neuen Land befassen musste, war vor unserer Syrien-Reise. Damals wie heute war der erste Schritt, mir eine große Landkarte zu besorgen und sie in meinem Arbeitszimmer aufzuhängen. Dazu möglichst alle verfügbaren Reiseführer, aus denen ich mir alle für unsere „Erstbegehung“ notwendigen Orte und Gegenden raussuchte. Mittels kleiner Post-it-Pfeile markierte ich diese auf der Karte. So gewann ich nach und nach einen Überblick über das ungewohnte Terrain, Namen prägten sich ein, die „Verortung“ fällt nach jedem weiteren Blick auf die Karte leichter. Schon die Befassung mit den Ortsnamen machte klar, dass das Albanische eine besondere Herausforderung darstellen würde, eine Sprache, die sehr eigenständig ist und kaum Bezug zu anderen Sprachen hat. Erster Begriff, der mir haften blieb, war der Namenszusatz „i Vogël“, der nichts mit Federvieh zu tun hat, sondern der – bei Ortsbezeichnungen – den kleinen von zwei gleichnamigen Orten kennzeichnet, also etwa „Querret i Vogël“ (Klein-Querret) im Gegensatz zu „Querret i Madh“ (Groß-Querret). Das „v“ wird allerdings nicht wie unser „Vogel-Vau“ ausgesprochen, sondern wie ein „w“.
Sich noch einen nennenswerten Wortschatz anzueignen, erschien uns nicht möglich. So versuchte ich noch, mir die gängigsten Floskeln merken, während Rendel schon auf eine gewisse Basis aus der Zeit, als sie mit kosovarischen Flüchtlingen gearbeitet hatte, aufbauen konnte. Wie nützlich selbst dieser Grund-Grundwortschatz ist, wird später in diesem Bericht deutlich werden. (Übrigens wird das „ë“ im Albanischen, das ich auch in diesem Text verwende, etwa wie unser „e“ in „Rose“ ausgesprochen, also – für unsere Türkischkenner – in Grunde wie das türkische „ı“, das „i ohne Punkt“.)
Die Bekanntgabe unseres nächsten Reiseziels im Freundes- und Bekanntenkreis löste nicht so viel Stirnrunzeln aus wie seinerzeit bei Syrien, die Frage „Kann man da überhaupt hinreisen?“ wurde jedoch schon gestellt. Sorgenfalten auf unseren Stirnen, insbesondere bei Rendel, zeichneten sich aber im Blick auf die zu erwartenden Straßenzustände ab. Zwar sollte es keine Endurowanderung werden, wozu unsere doch recht schweren Honda Africa Twin eh nicht erste Wahl wären, doch ließen Berichte und entsprechende YouTube-Clips auch erwarten, dass selbst „normale“ Straßen mitunter eine echte Herausforderung darstellen könnten. Das im Hinterkopf musste ich Rendel versprechen, die Routenführung so zu wählen, dass sie nicht schon sehr früh an ihre Grenzen kommen würde. Das Versprechen konnte ich nur sehr bedingt geben, denn a) wusste ich ja selbst nicht, was uns wo erwartet, b) sollte sich zeigen, dass sich die aktuelle Situation schnell ändern kann, etwa in diesem Jahr, wo es auch im Frühjahr lange und ausgiebig geregnet hatte.
Die eher „materiellen“ Reisevorbereitungen gestalteten sich unproblematisch, denn von der Ausrüstung her brauchten im Vergleich zu den Türkeireisen keinerlei Anpassungen zu erfolgen. Reisende mit eigenem KFZ müssen lediglich ihren Fahrzeugschein und, für Montenegro, Albanien und Mazedonien die „Grüne Versicherungskarte“ mitführen (auf der die genannten Länder natürlich nicht „ge-ixt“ sein dürfen); in Kosova ist die Karte nicht gültig, hier muss bei Einreise eine Kurzzeitversicherung abgeschlossen werden. Deren Preis richtet sich nach der Fahrzeugart und der Aufenthaltsdauer; wir haben das Minimum von 14 Tagen gewählt, was dann mit € 10,- pro Motorrad zu Buche schlug.
Apropos Euro: Montenegro und Kosova haben den Euro als Landeswährung eingeführt (natürlich ohne Mitglied der eigentlichen Euro-Staaten zu sein), in Albanien gilt der „Lek“, der sich in einem sehr stabilen Wechselkurs zum Euro verhält. Geldautomaten gibt es ausreichend, wobei ich zunächst auf die spezielle Schwierigkeit stieß, immer an solche zu geraten, die nur Kreditkarten mit PIN-Code akzeptierten. Ich habe zwar eine VISA-Card, mir aber nie die PIN zur Barabhebung gemerkt, da ich gerne die Maestro-Karte nutze. Wer auch gerne mit der Maestro-Karte Geld abheben möchte, der sollte nach einer Filiale der in Albanien und Kosova verbreiteten „Raiffeisenbank“ Ausschau halten.
Ansonsten reicht der Personalausweis, wobei wir jedoch immer mit Reisepass reisen, was die losen Zettel mit dem Einreisevermerk erspart. Wer jedoch von Kosova kommend nach Serbien ausreisen möchte, der sollte den Personalausweis (ohne Stempel) wählen, denn die Serben machen – unberechtigterweise – manchmal Probleme. So trafen wir am Übergang von Montenegro nach Kosova eine Gruppe fluchender österreichischer Motorradfahrer, die an der serbischen Grenze abgewiesen wurden und nun einen alternativen Ausreiseweg wählen mussten.
Das Tankstellennetz ist dicht, Preise den unseren vergleichbar, in Kosova etwas günstiger.
Das Ziel Albanien bedeutete für uns auch, dass wir unsere gewohnte Anreiseweise beibehalten konnten, sprich: Die Motorräder gingen wieder nach Thessaloniki vorab, wir per Flieger hinterher. So setzen wir am Sonntag, 15. Mai 2016, überpünktlich auf dem Makedonia Airport auf, lassen uns in einer 30-minütigen Taxifahrt nach Oreokastro, einem Vorort von Thessaloniki, ins Hotel bringen. In diesem Ort liegt die Niederlassung der Spedition, die unsere Moppeds transportiert hat. In der nahegelegenen Trattoria überfressen wir uns wieder einmal, traditionell der Moment, den wir als Startpunkt der Reise ansehen.
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Schwebende Klöster und tiefe Abgründe
Von Thessaloniki ins Pindos-Gebirge
Wer von Griechenland nach Albanien möchte, hat mehrere Möglichkeiten. Wir erwogen anfangs, unsere Route gegen den Uhrzeigersinn anzulegen. Das hätte geheißen, zunächst nach Norden über Mazedonien nach Kosova, von dort nach Albanien. Diese Planung haben wir schon früh verworfen, weil das bedeutet hätte, dass wir schon recht zeitig im albanischen Norden gelandet wären, was aus Wettergründen vielleicht nicht optimal gewesen wäre.
Neun Mal in Folge sind wir in den Vorjahren in Richtung Osten auf die Egnatinische Straße abgebogen, die uns in die Türkei bringen sollte, heute geht es andersrum. Um schon die erste Etappe gut zu nutzen, halten wir auf die berühmten Meteora-Klöster zu. (Schon in anderen Zusammenhängen hatte ich mir angelesen, dass „Meteor“ und verwandte Begriffe auf ein griechisches Wort zurückzuführen sind, das so viel wie „zwischen Himmel und Erde schwebend“ bedeutet.) Als sich die ersten konisch geformten Felsen abzeichnen, werden wir kurz an Kappadokien erinnert, aber die hiesigen Klosteranlagen sind eine Klasse für sich – entweder hoch auf einem dieser Felsen thronend oder wie drangeklebt an deren Flanken, kann man die Beschreibung gut nachvollziehen, dass die Bauten an dunstigen Tagen wie zwischen Himmel und Erde schwebend wirken. Wir beschränken uns auf eine Besichtigung von außen und halten, nach einem kurzen Plausch mit einem anderen Motorradfahrer, auf das dichtbewaldete Pindos-Gebirge zu.
Ein Straßenteilstück, das auf der Karte gestrichelt eingezeichnet war und das ich so als „im Bau befindlich“ gedeutet hatte, erweist sich als eine lange Folge von Tunneln. Wir wollen die Nacht in Monodendri verbringen, einer der beiden Orte, der, neben Vikos, die Endpunkte der Vikos-Schlucht markieren. Intuition oder Versehen? – auf jeden Fall biege ich etwas zu früh als vorgesehen von der Hauptstraße ab. Eine Korrektur scheint nicht notwendig, denn der neue Straßenverlauf läuft parallel und scheint nur unwesentlich länger. Jedoch ist die Straße wesentlich kurvenreicher und führt durch etliche kleine Dörfer. Diese wirken schmuck, keineswegs verfallen, jedoch völlig unbewohnt. Wir haben den Eindruck, dass sie nur noch als Sommerfrische für der Hitze Überdrüssige genutzt werden. Bei einem kleinen Stopp kommen uns dann doch drei ältere Herren entgegen, allesamt gebückt und auf ihre Stöcke gestützt. Freundlich begrüßen sie uns per Handschlag, um sich dann auf einer Bank niederzulassen. Wir vermuten, dass wir für lange Zeit die Hauptattraktion gewesen sind. Darüber kann ich jedoch nicht lange nachsinnen, denn Rendel, die 100 Meter vor mir geparkt hatte, hat ihr Mopped gewendet bekommen und möchte mir nun zeigen, dass sie durchaus auch im Fahren, ohne Fußeln und auf enger Straße, in der Lage ist zu wenden. Um sie nicht unnötig nervös zu machen, tue ich so, als würde ich sie nicht sehen, nur, um dann doch aus den Augenwinkeln mitzubekommen, dass das Manöver misslingt. Rendel schlägt hin, wobei ein Schienbein in heftigen Kontakt mit irgendeinem Motorradteil kommt. Da nichts gebrochen zu sein scheint, setzen wir unsere Fahrt fort – ich mit einer über ihre eigene Dusseligkeit schmollenden Rendel im Rücken.
Monodendri wirkt ähnlich ausgestorben wie die anderen Dörfer, wiewohl hier unverkennbar ist, dass sich der Ort für die Touristensaison vorbereitet. Wir beziehen im Hotel „Matzato“ ein geräumiges Zimmer; bevor wir auf Besichtigungstour gehen, schauen wir uns Rendels Schienbein an – etwas aufgeschlagen und ziemlich angeschwollen. In Ermangelung eines besseren Medikaments reibe ich die Stelle mit Diclofenac-Salbe ein, was sich dann in den nächsten Tagen doch als geeignete Therapie herausstellt.
Das Pindos-Gebirge ist ein Paradies für Wanderer, und insbesondere die Vikos-Schlucht ist ein beliebtes Ziel. Eine Tafel an einem Aussichtspunkt in Monodendri weist sie als tiefste Schlucht der Welt aus, anerkannt vom „Guinness-Buch der Rekorde“, was jedoch nicht unumstritten ist, denn es gibt wohl unterschiedliche Messweisen, in die u. a. auch das Verhältnis von Tiefe und Breite einfließen, was dann zu einer anderen Rangfolge führen kann. Wie auch immer – tief und wild ist sie allemal, wovon wir uns an einem Aussichtspunkt vergewissern können. Gerne würden wir die Schlucht durchwandern, müssen aber wieder mal akzeptieren, dass nicht alles und nicht alles gleichzeitig geht.
Wir durchstreifen den Ort auf seinen merkwürdig gepflasterten Sträßchen. Es hat den Anschein, dass Fuß und Karrenräder auch noch im winterlichen Schnee Halt und Spur finden sollten. Am lauschigen, derzeit auch noch menschenleeren Dorfplatz finden wir eine geöffnete Taverne – mit einem urigen, etwas düsteren Schankraum mit winziger Theke. Das Fleischlastige unserer diesjährigen Gastländer vor Augen, entscheidet sich Rendel für eine etwas ausgefallene Spezialität, gerade frisch zubereitet: große weiße Bohnen mit Spinat – ungewöhnlich, aber sehr lecker.
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„Shqip, shqip – hurra!“ – Erste Tuchfühlung mit Albanien
Monodendri–Syri i Kalter–Finiq–Butrint
Der zweite Morgen begrüßt uns mit lautem Vogelgezwitscher. Rendels Schienbein ist noch etwas dicker geworden und bekommt langsam Farbe …, es scheint aber tatsächlich „nur“ eine kräftige Prellung zu sein. Uns trennen nur noch wenige Kilometer von der albanischen Grenze, etwas Aufregung steigt in uns auf. Das freundliche Schild „Mirë se vini në Shqipëri – Willkommen in Albanien“ lässt die letzte Beklemmung schwinden. Die Grenzabfertigung auf beiden Seiten verläuft schnell und freundlich, ehe wir uns versehen, sind wir in unserem Zielland.
Die inneralbanische Routenführung hat mir einiges an Kopfzerbrechen bereitet. Der südliche Teil wird von einem Bergrücken, der von Nord nach Süd verläuft, geteilt. Beiderseits finden sich sehenswerte Städte und Gegenden, jedoch lässt sich der Bergrücken nur an einigen, für unsere Strecke ungünstigen Punkten queren. Wir entschließen uns, zunächst unser südlichstes Ziel anzufahren, auch, wenn das später Umwege oder Doppelungen bedeuten könnte.
Im Nachgang zu unseren Reisen habe ich oft erwähnt, dass die Fülle der Eindrücke manchmal etwas viel gewesen sei (was natürlich auch meiner Planung geschuldet ist). Auch heute, auf dem kurzen Stück von der Grenze bis Butrint, unserem Tagesziel, stehen schon drei Sehenswürdigkeiten auf dem Plan. Aber zunächst schlängeln wir uns über schöne Serpentinen zum Muzina-Pass hoch, erstaunt und zugleich beruhigt, dass es in Albanien auch bessere Straßen zu geben scheint. Kurz nach dem Pass halten wir, die letzten zwei Kilometer auf Schotterpiste, auf „Syri i Kalter“ zu, albanisch für „Blaues Auge“, was nicht das Ergebnis einer Schlägerei bezeichnet, sondern einen so genannten Quelltopf, aus dem sich aus einer Karstquelle ca. 6 m³ Wasser pro Sekunde ergießen, mithin die ergiebigste Quelle Albaniens. Das Ganze ist umgeben von üppigem Grün, dazu überschattet von riesigen Eichen und Platanen. Bevor eine gewisse Bebauung zugelassen wurde, mag der Ort noch idyllischer gewesen sein, wir finden ihn immer noch sehr schön. Das Wasser hat bei Austritt konstant 12,5°C, weswegen die beiden Österreicher, die sich auf einen Tauchgang vorbereiten, wohlweislich ihre Neoprenanzüge überziehen. Angeblich soll es noch nicht möglich gewesen sein, bis zum Grund der Quelle vorzudringen. Die Vorstellung, hier abends, wenn die paar Touristen fort sind, beim Abendessen zu sitzen, fasziniert uns, aber leider wird das kleine Hotel erst zum 1. Juli wieder seine Türen öffnen. Wir bleiben noch etwas, Rendel ersteht an einem Nippes-Stand zwei Albanien-Aufkleber für die Motorradkoffer, während mir etliche schöne Fotos von stahlblauen Libellen gelingen.
Das Kloster von Mesopotam können wir nur von außen besichtigen, zwar kann man wohl irgendwo jemanden auftreiben, der einem aufschließt, was uns aber doch zu aufwändig ist. Dafür wollen wir unsere Rast an der kleinen Ausgrabungsstätte von Finiq machen, den Waypoint, der den Anfang einer kleinen Straße markiert, die dahinführen soll, habe ich mir vorab aus dem Internet rausgesucht. Zweimal passieren wir genannten Punkt, ohne die Abzweigung ausmachen zu können. (Man weiß ja auch manchmal nicht, ob so ein Waypoint von einem Autofahrer oder einem Wanderer gesetzt wurde.) Rendel erinnert sich, im letzten Ort ein Schild gesehen zu haben, das in Richtig Finiq weisen könnte – und tatsächlich: Die relativ gut ausgebaute Straße windet sich einen kleinen Hügel hoch und mündet direkt an der Ausgrabungsstätte. Finiq, eines von etlichen antiken „Phoinikes“, ist nicht besonders spektakulär, es als Rastplatz anzusteuern hat aber auf jeden Fall gelohnt. Wir durchstreifen das recht übersichtliche Areal und genießen, durch einen improvisierten Unterstand vor der Sonne geschützt, den Ausblick. Hier stoßen wir auch zum ersten Mal greifbar auf die oft erwähnten Mini-Bunker aus der Zeit Enver Hoxhas, der in seiner Paranoia das ganze Land mit diesen Betonhüttchen überzogen hat. (Wobei wir sie zumeist nicht soo störend wahrgenommen haben, wie hin und wieder beschrieben.)
Um Butrint noch heute besichtigen zu können, müssen wir uns etwas sputen. Zwar wissen wir, dass wir mit Euros überall durchkämen, doch wollen wir uns jetzt doch langsam mit albanischen Lek versorgen. In Ksamil, einer Kleinstadt etwas nördlich von Butrint, steuern wir eine Bank an, wo wir vor dem eingangs geschilderten Problem stehen. Der neben dem Geldautomaten postierte Wachmann schickt uns in den Schalterraum, dort würde man uns helfen. Der Filialleiter ist auch äußerst hilfsbereit, hantiert mit meiner Visa-Karte am Lesegerät auf seinem Schreibtisch (in dem Ansinnen, dass ich mich dann statt mit PIN mit meiner Unterschrift legitimieren könnte). Aber es geht nicht, selbst seine eigene Karte nimmt es nicht an, woraufhin er zunächst das Gerät teildemontiert, um den Lesekopf zu reinigen. Auch der Anruf bei einer Servicestelle fruchtet nicht. Angesichts von so viel Einsatz machen wir gute Miene, würden aber doch gerne weiter. Schließlich gibt er auf und uns einen Tipp, mit dem er auch schon früher hätte rausrücken können: 200 Meter zurück gibt es eine Tankstelle – und dort einen Geldautomaten der Raiffeisen-Bank, der Maestro akzeptiert. Während ich die paar Meter fahre und Geld ziehe, unterhält sich Rendel mit dem Wachposten, wobei sie einige Parallelen zum Türkischen entdeckt.
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Inselschönheit
Butrint
Butrint allgemein zählt zu Albaniens Hauptsehenswürdigkeiten, unter den archäologischen Stätten ist es unangefochten die Nummer eins. Die Stätte befindet sich auf einer „Fast-Insel“ am Ende einer langgestreckten Landzunge, nur durch eine schmale Landbrücke mit dieser verbunden. Von den beiden empfohlenen Unterkünften drängt sich das Hotel „Livia“ förmlich auf: schönes Äußeres, einladender Garten, die Verheißung einer guten Küche, zudem nur 200 Meter entfernt vom Eingang zum Ausgrabungsgelände. Der agile, gut englisch sprechende Manager verspricht uns das beste Zimmer, das sie haben. Gut, das alleine mag sehr relativ sein, aber besagtes Zimmer ist wirklich „die Wucht in Tüten“: groß, eigentlich mehr Suite, zwei Balkone, tolle Aussicht, sehr gepflegtes Bad – und das alles für 25 Euro incl. Frühstück. Wir sind so begeistert, dass wir ihm gleich für zwei Nächte zusagen. Immer wieder versichert er uns, wie willkommen wir in Albanien seien, dass wir nirgendwo Angst zu haben bräuchten, dass wir immer mit der Hilfsbereitschaft der Menschen rechnen könnten – und dass die Polizei Order hätte, Touristen möglichst unbehelligt zu lassen.
Bei zwei Tagen lohnt es schon, sich etwas einzurichten, was Rendel immer gern und zügig macht. Obwohl noch ein weiterer Tag zur Verfügung steht, entschließen wir uns – nicht zuletzt wegen des besser werdenden Lichts –, Butrint noch an diesem Nachmittag unsere Aufwartung zu machen.
Das Areal auf dieser kleinen Quasi-Insel ist eine kleine Welt für sich: Viele Epochen und Kulturen haben hier auf engstem Raum ihre immer noch sichtbaren Spuren hinterlassen – Griechen, Römer, Byzantiner, Normannen, Venezianer, Osmanen u. a. Das Schöne ist, dass man das Areal ziemlich ungehindert von Absperrungen etc. eigenständig durchstromern kann. So erkunden wir das Asklepios-Heiligtum, die Basilika, das Baptisterium, das Kastell, das Löwentor, den „Trikonchos-Palast“ (ein prächtiges Bürgerhaus) und andere, teilweise sehr imposante Hinterlassenschaften der genannten Kulturen.
Neben den Details begeistert vor allem die Lage, denn fast das ganze Areal ist vom Wasser des Butrint-Sees umgeben, einer Art Lagune, die aber tatsächlich wie ein See wirkt. Am Ufer finden sich eine Anzahl lauschiger Plätze, Teile der Stadtmauer ragen bis in den See hinein, von dort lassen sich Vögel und Fischer bei ihrer Arbeit beobachten.
Geschafft und hungrig lassen wir uns im Hotelrestaurant nieder. Gerne hätte wir draußen gegessen, aber es wird durch den aufkommenden Wind etwas frisch. Wir lassen uns Fisch und Fleisch munden, ich probiere zum ersten Mal das, was hier in Albanien unter „Raki“ firmiert. Damit wird im Grunde jeder gebrannte Schnaps bezeichnet, den fast jede Familie selbst produziert – in allen geschmacklichen Variationen, Alkoholgehalt von ca. 40 bis über 80%. Ich probiere einen eher gewöhnlichen Traubenbrand, einem besseren Grappa nicht unähnlich, und einen dunklen, auf der Grundlage von Walnüssen gebrannten – eher gewöhnungsbedürftig …
Bei der abendlichen Sichtung der Foto-Ausbeute habe ich den Eindruck, dass etliche Bilder, die ich mit meinem neuen, vollmanuellen 12-mm-Weitwinkel geschossen habe, unscharf sind, weswegen wir gleich beschließen, die heutige Besichtigung morgen zu wiederholen. (Meine Befürchtung hat sich dann nicht bestätigt, aber so kamen noch ein paar gute Fotos dazu.)
So können wir am nächsten Vormittag noch einmal ganz entspannt losziehen, eigentlich eine empfehlenswerte Vorgehensweise, denn so kann man sich nach dem groben Überblick auf Details konzentrieren. Nach halsbrecherischer Kletterei finden wir noch die Reste der zweiten, der „Akropolis-Basilika“ (eine Anstrengung, die nicht wirklich lohnte) und erklettern einige der Ruinen direkt am See. Einen im Innenhof des Kastells exponiert aufgestellten weiblichen Marmorkopf halte ich fälschlicherweise für Kaiserin Sissi (die ja gerne auf der nur wenige Kilometer entfernten Insel Korfu logierte), es stellte sich dann als Livia heraus, Gemahlin Kaiser Augustus’, die Dame, nach der auch unser Hotel benannt worden war.
Im Bereich des Asklepios-Tempels schließen wir uns kurz einer deutschsprachigen Führung an. Viel bekommen wir nicht mit, können aber heraushören, wie sie die Geschichte der Entdeckung eines bestimmten Fundes schildert. O-Ton: „Oh Scheiße …’n Schatz!!“
An einer Stelle beobachten wir eine jüngere Frau mit einem Helfer, die irgendetwas vermessen und Skizzen machen. Sie erzählt, dass sie Archäologin der Universität Tirana sei und sich gerade mit Inschriften befasse, die von der Freilassung von Sklaven berichten. Sie zeigt uns dann einige dieser Texte, die in Quader in einer Mauer eingemeißelt worden waren – was unserem ungeschulten Auge entgangen wäre.
Während Butrint nach Westen hin fest mit dem Festland verbunden ist, stellt nach Süden hin eine kleine Seilzug-Fähre, die Platz für zwei, drei PKW und ein paar Fußgänger bietet, die Verbindung her. Wir setzen in zwei Minuten über und laufen die paar Meter zu der auffälligen, in Dreiecksform angelegten Festung (vom Butrinter Kastell aus kann man die Form von schräg oben gut erkennen). Leider ist der Zugang versperrt, weswegen wir uns auf die äußerliche Besichtigung beschränken müssen. Der Besitzer einer kleinen Getränkebude singt lauthals albanische Weisen, durchaus originell. Als er für ein Foto jedoch Geld verlangt, winke ich ab.
Die Zeit bis zum Abendessen vertreibe ich mir in der Abendsonne am brackigen Ufer des Sees. Hier quaken nicht nur Frösche, hin und wieder zeigen sich auch Wasserschlangen, die aber so fix wieder verschwinden, dass mir nur unscharfe Aufnahmen gelingen.
Der Abend verläuft nicht ganz so harmonisch wie sonst üblich – wir streiten uns im Blick auf Rendels Fahrvermögen und die davon abzuleitende Streckenführung. Während ich dafür plädiere, die Sache auf uns zukommen zu lassen und vor Ort zu entscheiden, lässt sich Rendel durch Reiseführer-Schilderungen abschrecken und weigert sich per se, gewisse Strecken anzugehen (zur Diskussion steht konkret eine Strecke nach Berat, ein Ort, den ich gerne sehen würde). Schließlich vertragen wir uns wieder, nachdem ich auf dieses Ziel verzichte. Wobei ich mich immer schon sehenden Auges und gerne darauf eingelassen habe, dass Rendel der bestimmende Faktor in solchen Fragen sein darf, zu wertvoll ist mir die Tatsache an sich, dass Rendel überhaupt selbst fährt. Und die Freude daran will ich ihr nun nicht gerade nehmen.
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Immer am Strand lang, beim U-Boot-Hafen links ab
Butrint–Porto Palermo–Llogara-Pass–Orikum–Gjirokaster
Heute soll es auf die einzige Küstenetappe gehen. Zwar interessiert uns die Adriaküste, die in der Saison auch wohl schon ziemlich voll ist, nicht so sehr, aber ein Stück am Meer lang ist immer schön, zudem liegen auf der Strecke auch einige Highlights. Zunächst aber quälen wir uns durch Sarandë, wo wir das erste Mal mit dem Phänomen konfrontiert werden, dass die innerstädtischen Straßen oftmals übler sind als die Überlandrouten. Schon kurz drauf zeichnet sich ab, dass es mit dem ungetrübten Meerblick nichts werden wird, alles liegt im Dunst, Regen zieht auf. Trotzdem macht die Strecke Spaß, auch, wenn man sich die schöne Aussicht denken muss. Wir passieren etliche Orte, deren Strände im Sommer zu den Hotspots zählen, kurz vor dem Badeort Himarë sichten wir die Festung von Porto Palermo, deren ebenfalls dreieckiger Grundriss sich auf einer kleinen Halbinsel erstreckt, die ins Ionische Meer ragt. Ein Mann, der wohl als Wächter fungiert, geht uns schon mal zur Festung voraus, wir folgen kurz drauf. Das Eingangsportal ist jedoch – augenscheinlich von innen – verrammelt, vom Wächter keine Spur. Eine junge Amerikanerin gesellt sich zu uns, sie war bis vor Kurzem Soldatin auf der US-Airforce-Basis Ramstein. Nach einer Viertelstunde öffnet sich das Tor – der Wächter hatte erst einmal ungestört Brotzeit gehalten! Die Festung datiert (nicht gesichert) wohl ins frühe 19. Jahrhundert, erbaut vom osmanisch-albanischen Herrscher Ali Pasha Tepelena, der in dieser Zeit über große Teile Griechenlands und Albaniens herrschte (und später, als er mit den griechischen Aufständischen paktierte, beim Sultan in Ungnade fiel). Da noch sehr jung, ist die Burg gut erhalten und sehenswert. Besonders haben es mir die steingedeckten Aufbauten angetan, eine Weise, ein Dach zu decken, die uns noch häufig begegnen wird.
Der Llogara-Pass bildet, bei einer Höhe von 1.027 Metern, die Wasserscheide zwischen Adriatischem und Ionischem Meer. Überwunden wird er mittels einer wirklich spektakulär anmutenden Passstraße, die wir bei dem Regen leider weder optisch noch fahrerisch wirklich genießen können. Vor uns quält sich ein Reisebus mit Schülern den Pass herunter, es ist teilweise so eng, dass er eine Kurve nur mittels mehrmaligem Vor- und Zurücksetzen meistern kann. An einer Stelle, wo wir gerade Rast machen, regel ich den Verkehr, damit er besser durchkommt.
Zum Glück lässt der Regen bald nach, ich merke aber, dass ich meine Regenkombi doch etwas zu spät angezogen habe. Feucht im Schritt und eingedenk einer kürzlich durchstandenen heftigen Blasenentzündung wechsle ich an geschützter Stelle die Unterwäsche. Abgesehen vom Ziel Gjirokaster habe ich noch eine kleine archäologische Stätte auf dem Zettel: Orikum/Orikos, einige Kilometer südlich von Vlorë. Für mich stellt ein Ort auch immer dann eine Herausforderung dar, wenn andere berichten, ihn aus irgendwelchen Gründen nicht haben erreichen zu können. Bei Orikum haben manche gar nicht erst den Versuch unternommen, denn es liegt im Bereich der Marinebasis Pashaliman, wo die Kriegsschiffe der albanischen Marine gebaut werden und U-Boote stationiert waren.
Mit Navihilfe und Nachfragen kommen wir an den Eingang des Areals, wo einige Wachen stehen. Der Chef des Postens kommt zu uns heraus, begutachtet unsere Motorräder, legt die Hand aufs Herz und bekundet mit einer angedeuteten Verbeugung: „Respekt!“ Wir schildern unser Anliegen, worauf er zum Telefon greift. Nach kurzem Gespräch weist er uns an, zunächst Richtung Marinehafen zu fahren, dann aber an einem bestimmten Punkt abzubiegen, dort sei die Ausgrabungsstätte. Wir bedanken uns und machen uns auf den beschriebenen Weg. An einer Uralt-Trafostation versperrt uns ein provisorisch verschlossenes Gatter den Weg. Kurz drauf zeigt sich, dass es nicht gegen Eindringlinge gedacht ist, sondern Ausbruchsversuchen wehren soll. Als wir nämlich an die eigentliche Stätte gelangen, weiden dort viele Kühe, der Hirte döst im Gras. Orikos kann nicht mit gewaltigen Bauten punkten, sehenswert wird es vor allem durch die Lage: Es liegt auf einer Art Damm, der einen kleinen See von der Bucht von Karaburun abschneidet, linker Hand, also nach Westen, erstreckt sich die gleichnamige Halbinsel. Diese besondere geografische Lage, verbunden mit dem heutigen Wetter, verleiht der Szenerie eine unheimliche, sogar etwas bedrohliche Atmosphäre.
Die Kühe immer im Blick, erkunden wir das Gelände, in dessen Zentrum das kleine Theater liegt. Wegen seiner geschützten Lage war der Ort als Hafen immer begehrt und somit auch fast durch alle Jahrhunderte in Benutzung – bis heute. Mittlerweile ist der Hirte aufgewacht und sucht mit seinem Feldstecher das Seeufer ab. In unserer Fantasie ist er gar keine Hirte, sondern ein getarnter Agent … Im Rahmen unserer Möglichkeiten kommen wir noch kurz ins Gespräch, helfen ihm mit einer Flasche Trinkwasser aus und verabschieden uns – nicht, ohne das Gatter wieder sorgfältig zu schließen. Den Wachposten grüße ich bei der Ausfahrt mit knappem militärischen Gruß, dann versuchen wir, auf die Strecke nach Gjirokaster zurückzufinden. Dabei fahren wir bis Vlorë noch ein Stück die Küste entlang, an einem touristisch ausgestatteten Abschnitt versuchen uns in Trachten gekleidete Männer in ihre Restaurants zu locken. Aber wir stärken uns lieber noch an den verbliebenen Kartoffelchips, denn bis Gjirokaster ist es noch ein End – und der Himmel verheißt nichts Gutes.
„Eigentlich“ wollte ich anders fahren, schon kurz hinter Vlorë nach Westen ab, das Navi weiß es aber besser. Nachdem wir uns in Vlorë ziemlich verfranzt haben, führt es uns zunächst – völlig aus der Richtung – auf der SH8 nach Norden, wo wir dann später auf die SH4 treffen, die uns dann direkt nach Gjirokaster führen soll. Für heute scheint es aber tatsächlich die bessere Wahl zu sein, denn so können wir fast komplett Autobahn fahren, was uns angesichts der Uhrzeit und des Wetters entgegenkommt.
Wer sich über Gjirokaster kundig macht, stößt unvermeidlich auf den Beinamen „Stadt der Steine“. Dieser rührt von den, kleinen Burgen ähnelnden Häusern der Altstadt, die auch mit solchen, weiter oben beschriebenen Steinen gedeckt sind. Diese wuchtigen Dachkonstruktionen sollen dem Temperaturausgleich dienen – im Sommer die Hitze draußen, im Winter die Wärme drinnen haltend. Wir müssen uns jedoch zunächst mit einem anderen Aspekt der „Stadt der Steine“ auseinandersetzen: Die Straßen der Altstadt, wo wir Quartier beziehen wollen, sind durchgängig mit Steinen gepflastert, jedoch nicht im Sinne eines Verbundsteinpflasters, wie man es vor einer durchschnittsdeutschen Garage findet, sondern sehr rau, kleinteilig, bei Nässe sehr rutschig. Zu allem Überdruss ziehen sich die Straßen serpentinenartig den Hang hoch, dort, wo, im Schatten der mächtigen Festung, unser Hotel liegt. Vorgewarnt durch einen Reisebericht, streicht Rendel frühzeitig die Segel, läuft voraus, um im Hotel „Gjirokaster“ das Zimmer klarzumachen. Nachdem ich mein Mopped sicher auf dem kleinen Hotelvorplatz abgestellt habe, hole ich ihres nach. Dieser ereignisreiche Tag klingt dann, da wir keine Lust haben, uns noch weiter auf die Suche zu machen, im kleinen Restaurant des Hotels ganz unspektakulär aus.
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Nasse Steine
Gjirokaster
Das prasselnde Geräusch von draußen lässt nichts Gutes erwarten. Tatsächlich hat es die ganze Nacht geregnet, nach dem Frühstück lichtet sich der Himmel zunächst ein wenig, die sich malerisch den Hang hochziehenden Häuser wirken in den Nebelschwaden noch einmal ganz besonders. Als dann der Regen wieder einsetzt, müssen wir uns entscheiden: den Tag auf dem Zimmer verdrömmeln oder das Beste draus machen. Wir leihen uns einen Schirm und machen uns auf den Weg zur Festung. An der Tür des Hotels treffe ich auf eine deutsche Frau. Sie erzählt, dass sie mit ihrem Mann per Fahrrad unterwegs ist und sie durch den Regen auch ausgebremst wurden. Sie müssen zurück nach Tirana, hoffen, die Räder im Bus mitnehmen zu dürfen.
Wenn man vor unserem Hotel stehend den Blick erhebt, sieht man die mächtige Festung, die sich fast von einem Augenwinkel zum anderen im Nebel abzeichnet. Der Fußweg zieht sich und ist nicht ganz unbeschwerlich. Frühe Formen der Zitadelle wurden schon im 12. Jahrhundert errichtet, in der Folge wurde sie, von wechselnden Herrschern, erweitert und genutzt. Die unrühmlichste Verwendung der alten Gemäuer in neuester Zeit war wohl die, dass Teile als berüchtigtes Gefängnis des kommunistischen Diktators Enver Hoxhas genutzt wurden, der ein Sohn der Stadt war. (Genau wie Ismael Kadare, dem bekanntesten albanischen Schriftsteller, dessen Bücher auch eine gute Vorbereitung für eine Reise in das Land darstellen.)
Nach Entrichten des Eintrittsgeldes passieren wir das mächtige Eingangsportal und sehen uns zunächst einem Spalier von Kanonenrohren gegenüber. Links und rechts recken Haubitzen, Mörser und ähnliches Kriegsgerät ihre Rohre in die Höhe, beleuchtet von schummrigem Licht, was dem Ganzen zusätzlich eine unheimliche Atmosphäre verleiht. Die Festung dient heute im Wesentlichen als Museum, insbesondere als Kriegsmuseum mit Schwerpunkt auf dem antifaschistischen Widerstand. Unter unserem Schirm wagen wir uns zunächst ins Freie, halten auf den schönen Uhrturm zu. Auf einer Freifläche steht ein kuppelförmiges Stahlgerippe, unter dem im Sommer Konzerte u. ä. stattfinden. Das Ganze ist im Regen etwas trostlos, zumal die wohl sonst grandiose Aussicht verwehrt bleibt, andererseits hat dieser wetterbedingt andere Blickwinkel auch seinen Charme. Skurrilstes Exponat im Außenbereich ist das Wrack einer amerikanischen T-33 „T-Bird“. Die Maschine musste 1957 über Albanien notlanden, das Wrack wurde nach Gjirokaster verfrachtet, der Pilot später freigelassen.
Wir lassen uns, nach Entrichtung eines Zusatz-Eintrittsgelds, den eigentlichen Museumstrakt aufschließen. Auch hier dominieren Kriegswaffen aller Art – vom Bajonett über das Uralt-MG bis zur Mörsergranate. In heroischen Darstellungen wird der Freiheitskampf der Albaner dargestellt, martialisch, aber auch interessant, so etwa der Nachbau einer Vorrichtung zur Überwindung von Stacheldraht-Sperren.
Wirkte dieser Teil eher befremdlich, so hat der Zellentrakt, der fast in seinem ursprünglichen Zustand belassen wurde, etwas Bedrückendes. Nachträglich handschriftlich an den Wänden angebracht wurden Hilferufe und Aussagen ehemaliger Gefangener, die wir zwar nicht entziffern, deren Inhalt wir aber erahnen können. Wir beide meinen, das Schreien der Gefolterten noch durch die Flure hallen zu hören. Auf jeden Fall haben wir den Eindruck, dass niemand dem kommunistischen Intermezzo nachtrauert, auf Beschreibungstexten zu den Exponaten, die zum Teil auch auf Englisch verfasst sind, ist von „Diktatur“ und „kommunistischem Terror“ die Rede.
Wir schauen uns noch kurz die in der Festung versteckte Bektashi-Türbe an, um dann, trotz unausgesetztem Regen, noch ein paar weitere Meter den Hang zu erklimmen. Der Ortsteil Dunavat mit seinen steingedeckten Häusern ist typisch für Gjirokaster. Dort spricht uns eine ältere Dame auf Englisch an, die sich freut, deutsche Touristen zu sehen.
Meine vermeintlich wasserdichte Windjacke leckt zusehends, Zeit, sich irgendwo aufzuwärmen. Da ich mich seit über einer Woche nicht rasiert habe, beschließe ich, einen „Berber“ (Barbier) aufzusuchen, während Rendel sich ein wenig in der Altstadt umschaut und ein Restaurant sucht. Die Behandlung durch die Berber in der Türkei habe ich immer so genossen, dass ich schon seit Langem kein Rasierzeug mehr mitgenommen hatte. Nachdem ich mich in einem Albanien-Forum versichert hatte, dass es diese Institution auch in Albanien gibt, habe ich auch bei dieser Reise darauf verzichtet. Erwartungsvoll nehme ich in dem Vorkriegs-Friseurstuhl Platz (ich rede vom 1. Weltkrieg), der ältere Herr wirkt vertrauenswürdig und berufserfahren. Fließend Wasser scheint es nicht zu geben, aus einer Flasche füllt er Wasser in eine halbierte Cola-Dose, das er auf einem Campingkocher erhitzt. Auch das kein Grund zur Beunruhigung, alles wie schon oft in der Türkei erlebt. Meinen Auftrag „Komplett Gillette“ scheint er verstanden zu haben, denn er schäumt mir zunächst den Schädel ein. Doch als er dann das Rasiermesser ansetzt, schwant mir, dass ich eine weitere Bemerkung aus besagtem Albanien-Forum doch hätte ernster nehmen sollen – den Hinweis auf offensichtlich minderwertige, schartige Rasierklingen. (Die Leute rasieren ja nicht mit einem Rasiermesser alter Art, sondern mit einer Halterung, in die in Längsrichtung halbierte, normale Rasierklingen gesteckt werden.) Schon beim zweiten Ansetzen hackt mir der Schlächter eine blutende Macke in die Kopfhaut, woraufhin der wie Feuer brennende Alaun-Stift zum Einsatz kommt. Kann passieren, ich mache gute Miene zum grausamen Spiel. Zum Schluss habe ich fünf dieser Schmisse am Schädel, deren Spuren mich noch die ganze Reise über begleiten sollen. Merkwürdigerweise passiert ihm bei der Bartrasur kein Schnitzer (sic!), die Rasur ist fast perfekt. Okay: No pain, no gain. Wäre alles glatt gegangen, hätte ich auch nicht so viel zu berichten …
Rendel holt den Verwundeten ab und schleppt ihn in einen kleinen Imbiss. Die barmherzige Inhaberin platziert uns in einer Ecke direkt vor einem Heizofen, wo wir uns aufwärmen und unsere Jacken trocknen können.
Für den Abend haben wir eine Restaurantempfehlung, den Laden gibt es aber wohl nicht mehr. Unweit unseres Hotels war uns eine „Taverna Kuka“ aufgefallen. (Wirklich authentische albanische Küche scheint es kaum mehr zu geben. Nach dem Ende des Kommunismus stürzte sich alles auf westliches Fastfood, lediglich die Nähe zu Italien hatte dann ihr Gutes, denn dort wurden kulinarischerseits viele Anleihen gemacht. So konnte ich mich auch schnell mit dem Fehlen des gewohnten türkischen Tees abfinden, denn die Kaffeekultur ist in Albanien hoch entwickelt. Oder wie unser Freund Halil später im Kosovo bemerkte: „Warum machen die Albaner so einen guten Kaffee? Weil die Barista in der Regel mindestens zwei Hochschulabschlüsse haben!“) Im „Kuka“ sind wir zunächst alleine, später gesellt sich eine englische Reisegruppe und eine Familie hinzu, die sich freut, später unseren Tisch übernehmen zu können. Gegen den Durst nehme ich zunächst ein Bier, frage dann nach dem Hauswein, der sich als Klasse-Tropfen herausstellt. Wir nehmen Zaziki, Salat, Rendel eine Carbonara, ich pikantes Schweinefleisch, eine Riesenportion. Da der Wein so lecker ist, ordere ich noch zweimal nach, zum Abschluss einen Raki. Dass wir für all das 18 Euro bezahlt haben, kommt mir heute noch wie ein Rechenfehler vor.
Unsere Klamotten sind zumindest wieder so trocken, dass wir sie verpacken können. Für morgen haben wir uns die 50.000-Einwohner-Stadt Korcë zum Ziel gesetzt, die als „Wiege der albanischen Kultur“ gilt.
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Jungbrunnen. Und, wie ich am liebsten mal kein Rückgrat gezeigt hätte
Gjirokaster–Benjë–Korcë
Der Regen hat schon vor Sonnenaufgang aufgehört, die Regenkombi ziehen wir aber vorsichtshalber doch erst einmal über. Zu Rendels Erleichterung müssen wir die Altstadt nicht über die glatte Wackerstein-Piste verlassen. Aber es gibt ja noch andere Hindernisse. Kurz bevor wir aus Gjirokaster raus sind, müssen wir durch einen Kreisverkehr, der mit wahrhaft riesigen Schlaglöchern durchzogen ist – alle randvoll mit Wasser. Ich durchquere so ein Exemplar mittig, während Rendel mehr den Randbereich erwischt, der anscheinend nicht senkrecht, sondern schräg abfällt. Ihr Mopped kommt ins Rutschen, und ich sehe im Rückspiegel, wie sie noch versucht, es abzufangen, dann aber doch hinschlägt. Nach der kurzen Versicherung über Helmfunk, dass ihr nichts passiert ist, eile ich hinzu, um ihr und dem Motorrad aufzuhelfen, was sich aber erübrigt, denn einige Passanten waren schneller. Kleiner Schreck, jetzt sind wir richtig wach. Wir fahren ein Stück der Anfahrtsstrecke von vorgestern zurück. Dort hatte ich im Augenwinkel eine schöne Brücke gesehen, die ich mir gerne noch anschauen wollte, leider finden wir sie nicht mehr. Ein Umweg war es trotzdem nicht, denn unsere heutige Route, die uns über Permët nach Korcë bringen soll, hätte diesen kleinen Schlenker eh erforderlich gemacht. Während wir langsam wieder in höhere Gefilde kommen, steigt auch das Barometer, der Himmel reißt immer mehr auf. Wir passieren schließlich doch noch eine Hängebrücke, die von Dragot, in der Nähe fängt auch die Kelcyra-Schlucht an. An einem noch recht neuen Kloster direkt an der Straße machen wir Rast und entledigen uns der Regenklamotten.
Meinem Faible für Brücken folgend, schlage ich vor, einen Abstecher nach Benjë zu machen, in dessen Nähe sich eine sehenswerte Brücke befinden soll, die dort die Lengarica überspannt. Erfreulicherweise ist die kleine Straße nach Benjë in sehr gutem Zustand, nach einigen Kilometern sehe ich den Fluss. Ein großer Vorteil des ungewöhnlich starken Regens in den letzten Wochen ist, dass viele der Flüsse und Bäche, die zum Teil zu dieser Zeit nur wenig Wasser führen oder trockengefallen sind, voll sind. Dann erspähe ich auch die Brücke, nicht jedoch, wie dahin zu gelangen ist. Da sich Rendel den Weg nicht traut, erkunde ich die nächsten 500 Meter alleine, dann hätte aber auch ich, wenn ich weiter gewollt hätte, aufgeben müssen. (Damit war dann auch die Frage aus dem Albanien-Forum geklärt, ob die Strecke nach Frasher – um die handelte es sich – derzeit passierbar sei. Nein, ist sie nicht!)
Dann wird klar, dass die aus dem 18. Jahrhundert stammende Brücke von der anderen Flussseite anzufahren ist. Im Uferbereich sind Bagger und LKW bei der Arbeit, Rendel läuft die letzten Meter durch den Matsch, ich gebe eine Motocross-Einlage. Zunächst begrüßen wir den Mann, der bei der Brücke einen kleinen Getränkeverkauf betreibt. Dort lassen wir auch unsere Klamotten und besichtigen die Brücke – sehr gut erhalten, komplett zu begehen. Wir begegnen einem Deutschen, der uns erklärt, dass der Fluss weiter oben gestaut werden soll. Viele solcher Staudammprojekte sind auf dem Balkan geplant, was manchem Umweltschützer Sorgenfalten auf die Stirn treibt.
Um dem Getränkeverkäufer wenigstens zu einem kleinen Umsatz zu verhelfen, bitten wir um Wasser und Eistee. Den zusätzlich (aufs Haus!) angebotenen Raki lehne ich dankend ab. Der Mann zeigt uns ein Familienfoto, erzählt, dass er eigentlich in Permët wohnt und die Sommermonate hier verbringt.
Mir waren drei Wasserbecken aufgefallen, deren Überläufe in den Fluss mündeten – nicht künstlich angelegt, wohl aber nachträglich eingefasst. Auf Nachfrage erklärt uns unser Gastgeber, dass das Auffangbecken von Thermalquellen seien, jede von ihnen würde andere Krankheiten lindern. (Insgesamt sind es noch mehr Quellen, diese drei liegen direkt an der Brücke.) Die Aussicht auf 30° warmes Wasser lässt mich nicht lange zögern, ich schlüpfe aus dem Schlüpfer in die Badehose und lasse mich ins Wasser gleiten. Wirklich angenehm, und als ich wieder rauskomme, fühle ich mich zwei Monate jünger!
Ich hatte geahnt, dass uns die vom Navi vorausberechneten 270 Kilometer für diesen Tag sehr fordern würden. Aber die Strecke hat wirklich etwas zu bieten, für uns mit die schönste auf dieser Reise. Die Fahrbahnbeschaffenheit variiert, ist aber durchweg fahrbar, die Zahl der Kurven und Kehren tendiert gegen ∞. Den eventuell noch geplanten Abstecher zu den Kirchen und Klöstern von Voskopojë schminken wir uns für heute ab, die Kräfte lassen deutlich nach. Auch mein Rücken, der diesbezüglich eigentlich eher robust ist, spürt mittlerweile jeden Schlag. Zum Glück sind die letzten 15 Kilometer bis Korcë als gerade, gut ausgebaute Hauptstraße in der Karte verzeichnet. Gerade stimmt. Die Fahrbahnoberfläche muss man sich wie den Unterbau einer neuen Straße vorstellen, kurz bevor die erste Asphaltschicht aufgetragen wird, also ein verdichteter Untergrund aus Schotter und Lehm. Hier hat es aber den Anschein, als hätte man die Bauarbeiten in diesem Stadium vor zwei, drei Jahren eingestellt. In der Zwischenzeit hat sich eine solche Unmenge von Schlaglöchern gebildet, dass man nicht mal daran denken sollte, sie zu umfahren. Klock, klock, klock – bei jedem Schlag scheint sich meine Wirbelsäule um ein paar Millimeter zu stauchen. Sicher, Fahren im Stehen mindert die Stöße, hält man aber auch keine 15 Kilometer durch. Aber, wie auch anders, auch hier kann ich der etwas zurückgefallenen Rendel irgendwann über Funk melden, dass es ausgestanden ist.
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Wo man fein lecker essen kann
Korcë Teil 1
Wir hoffen, schnell eine nette Unterkunft zu finden, doch leider liegt uns für Korcë keine ausgesprochene Empfehlung vor. Auf dem Navi prangt im Stadtkern der Hinweis „Guesthouse Leon“. Zwar misstraue ich allzu prominent angebrachter Werbung – aber gut, probieren wir es. Im Gassengewirr hinter der unübersehbaren Kathedrale arbeiten wir uns bis zu dem Gästehaus vor. Wie immer erkundigt sich Rendel, kommt mit einem freundlichen Mann wieder raus, der uns leider sagen muss, dass er kein Doppelzimmer mehr habe, nur noch Einzelzimmer. Er bietet sich an, für uns zu telefonieren, wir ziehen es jedoch vor, dem zweiten Navi-Eintrag zu folgen. „Grand Hotel“, das wissen wir aus eigener Erfahrung, will nix heißen, aber vielleicht ist es mit den Abstrichen genau das, was wir wollen. Optisch wirkt der Klotz nicht ansprechend. Während Rendel sich erkundigt, macht sich ein nicht sehr vertrauenserweckend aussehender Vierzehnjähriger an mich ran, grapscht alles an, wird frech – bis ich ihm auf die Finger haue und ihn anschnauze. Kein schönes Umfeld. Rendel kommt unverrichteter Dinge wieder raus, erzählt von einer unfreundlichen Rezeptionistin, die „erstmal schauen müsse, ob sie ein Zimmer haben“. Ich schlage vor, zum Guesthouse zurückzufahren um zu sehen, ob es nicht auch mit zwei Einzelzimmern gehen würde. Kein Problem, meint der Inhaber – und 50 Euro für die zwei Zimmer mit Frühstück ist das, was wir in der Türkei immer für ein DZ einkalkuliert hatten. Zu unserer großen Freude stellt sich heraus, dass die beiden Zimmer auf einem eigenen kleinen Flur liegen, mit separatem Eingang, im Grunde also ein kleines Apartment – besser geht’s nicht!
Vor dem Duschen müssen wir uns erst ein wenig hinhauen, dann stellt sich die Frage nach dem Abendessen. Ob unser Gastgeber vielleicht einen Tipp …? Hat er. Er beschreibt uns den Weg zu einer „Taverna Vasili“ etwas abseits vom Stadtkern in einer Seitenstraße. Auf dem Weg dorthin kommen wir an der Auferstehungs-Kathedrale vorbei, die als größte Kirche Albaniens gilt. Massen von Menschen sind auf den Beinen, zumeist recht entspannt und fröhlich wirkend. Die Hauptstraße ist gesäumt von Häusern unterschiedlichsten Zustands: moderne Geschäftsbauten, ältere Häuser mit bröckelnden Fassaden und verwilderten Gärten sowie Ruinen.
Die Wegbeschreibung passt, das „Vasili“ ist schnell gefunden. Auf der überdachten Veranda ist es uns zu frisch, innen ist es nett, aber der Kellner hat noch was Besseres. Über eine Außentreppe führt er uns ins Souterrain, wo ein weiterer Gastraum einrichtet ist – authentisch alt, mit Kaminfeuer … Vom sehr gewandten Kellner lassen wir uns die Karte erläutern, zudem die besonderen Empfehlungen. Zu Letzteren zählt eine hiesige Spezialität, eine Suppe auf Hühnerboullionbasis mit Ei und Zitrone. Zweimal bitte! Auch das Hauptgericht ist etwas Besonderes: Schwein mit zarter Schwarte, in Bierdunst im Backofen geschmort! Nach dem obligatorischen Durstlöscher-Bier (ein „Korca“, hier gebraut – und sowohl als Pils „Bjond“ als auch als „Korca e zezë“, also dunkel, sehr lecker) frage ich nach Wein. Die Weinkarte ist länger als alles, was mir diesbezüglich in Deutschland je untergekommen ist. Ich entscheide mich für einen Roten im Preissegment bis 15 Euro, der aber leider nicht am Lager ist. Um die Sache zu verkürzen, bittet mich der Kellner mitzukommen. Er schließt den Weinkeller auf, was mich den Vorschlag machen lässt, die Tür doch von innen wieder zu verschließen … Nach etwas Orientierung greife ich zielsicher nach einer Flasche, die sich dann prompt als teuerstes Gesöff der Karte herausstellt. Nein, 70 Euro ist nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt, der Merlot der albanischen Kellerei Cobo für 15 Euro erweist sich dann auch als exzellente Wahl. Das Essen hier gehört für mich zu den Top 5 in allen unseren Urlauben.
Nachdem ich nun schon öfter an den Rakis geschnüffelt habe, frage ich mich, was die hier kredenzen. Wie nicht anders zu erwarten, ist auch der Digestif eine Spezialität: Mani Raki. Der Kellner versucht mir zu beschreiben, woraus er gemacht wird, ich verstehe nur, dass eine besondere Beere die Grundlage ist und dieser Raki nur in einem Dorf in der Nähe gebrannt wird. Und, dass er 70% hat. 70 Umdrehungen und eine leicht bläuliche Farbe – das gemahnt irgendwie an Brennpaste fürs Fondue. Rendel fällt beim Nippen fast das Glas aus der Hand, ich finde ihn lecker, aber nicht so, dass ich noch einen zweiten haben müsste. (Spätere Recherchen ergeben, dass dieser Raki aus Maulbeeren gemacht wird.)
In manchem Restaurant zuckt man ja angesichts der Rechnung gelegentlich zusammen – so auch hier. Aber nicht, weil sie uns um Haus und Hof brächte: Für all die oben beschriebene Pracht sollen wir Euro 28,- löhnen. Das lasse ich schon für uns zwei in unserer besseren Hamburgerbraterei. Gesättigt und mit uns und dem Tag zufrieden, rollen wir uns zu unserem Quartier – schon jetzt in Vorfreude auf die morgige Fortsetzung.
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Ich geh ins Kloster! – Aber in welches?
Voskopojë
Beim Frühstück lernen wir Jeanette kennen, eine agile 70-jährige Witwe aus Wales, die ständig irgendwo auf Achse ist, zumeist mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die letzten Tage hat sie in Voskopojë verbracht, den Ort, an dem wir gestern vorbeigefahren waren, den wir aber heute bei einem Tagesausflug erkunden wollen. Jeanette verweist uns auf einen Tourguide, der sie dort begleitet hatte und der sehr kundig sei. Wir wünschen uns einen „safe trip“ und verabschieden uns. Froh sind wir, dass wir, um nach Voskopojë zu gelangen, wider Erwarten nicht noch einmal auf die gestrige Rüttelpiste müssen. Die ca. 30 Kilometer gehen über recht gute Straßen durch schöne Gegend. In einem Dorf wird ein großer Viehmarkt abgehalten, wir hoffen, ihn auf dem Rückweg noch besuchen zu können. Leider kann Rendel das kleine Zicklein, das in einem Fahrradkorb transportiert wird, nicht rechtzeitig fotografieren.
Es ist auf den ersten Blick nur schwer zu glauben, dass die Ansammlung von Häusern, die das heutige Voskopojë bilden, einmal die – nach Konstantinopel – größte Stadt des Balkan gewesen sein soll. („Sein soll.“ Die Schätzungen bewegen sich zwischen 20.000 und 60.000 Einwohnern; sicher ist, dass die Stadt eine größere Bedeutung hatte, als die spärlichen Überreste erahnen lassen.)
Wir sind in erster Linie wegen der gut erhaltenen Klöster und Kirchen hier. Auf dem Dorfplatz steht eine Übersichtstafel, aus der hervorgeht, dass diese recht verstreut liegen. Da es etwas kühl ist, bleiben wir in unseren Motorradklamotten, natürlich ohne die schweren Jacken. Schnell gelangen wir zur Marienkathedrale, der größten der hiesigen Kirchen, die etwa 1.000 Menschen Platz bot. Leider ist schon das Tor zum umgebenden Hof verschlossen. Auf dem Weg zur Klosterkirche „Kisha e Shën Prodhomit“ („Kirche des Vorläufers (Christi)“, also Johannes des Täufers) bereue ich, die Strecke nicht mit dem Motorrad gemacht zu haben, zumal es enttäuschend ist – die Kirche kurz nach der alten Brücke ist nun wirklich nicht der Rede wert! Die schön am Hang gelegene Kirche des Athanasius mit dem sie umgebenden Friedhof erscheint aber vielversprechend. Wir öffnen das mit einem Draht verschlossene Tor und begegnen einem kurzbehosten Touristen, der sich als Hugh aus England vorstellt. Wir plaudern in bisschen und erhalten den wertvollsten Tipp überhaupt auf dieser Reise (was uns natürlich noch nicht bewusst ist): die Empfehlung des Örtchens Zaroshke am Südufer des Großen Prespa-Sees, dort insbesondere das Hotel „Aleksandar“. Und noch ein Hinweis kommt von Hugh: Das einfache Kirchlein, das wir gesehen haben, war gar nicht die „Kisha e Shën Prodhomit“, die sei vielmehr noch ein ganzes Stück den Berg rauf zu finden! Leider ist auch die Athanasiuskirche verschlossen, einige stark beschädigte Fresken kann man jedoch auch außen sehen.
Wir entschließen uns, die Gelegenheit doch zu nutzen und uns nochmal den Berg hinaufzuquälen, wieder über die Brücke, wieder an dem Kirchlein vorbei – und dann nochmal gefühlte 10 Kilometer. Leider erfüllt sich Hughs Vorhersage nicht, dass vielleicht, wie am Vormittag, jemand da sei, der uns aufschließen könnte. So bleibt uns die eigentliche Kirche buchstäblich verschlossen, die Nebengebäude, der Innenhof und das ganze „Setting“ sind aber doch Lohn genug für die Mühe. Zudem sind wir alleine, weswegen wir uns auch ungeniert über das eigentlich auf dem Areal geltende Fotografierverbot hinwegsetzen.
Runter geht’s bekanntlich leichter. Wir beschließen, im Ort eine Kleinigkeit zu essen und steuern ein Café an, vor dem zwei leichte Suzuki-Einzylinderenduros parken, beladen mit Softgepäck (anstatt mit festen Koffern), so verschlammt, dass man nur mit Mühe noch erkennen kann, dass sie aus Holland kommen. Deren Halter fläzen sich sichtlich erschöpft in den Sesseln vor dem Café. Die beiden kernigen jungen Männer erzählen von ihrer Hardcore-Endurotour, zu der sie auf dem Landweg angereist sind. Der anhaltende Regen hat ihre Planung völlig durcheinandergeworfen, die beiden wirken ziemlich fertig. Wir sagen „tschüss“, denn wir haben entschieden, die Rast doch woanders vorzunehmen. Als wir starten wollen, spricht uns ein junger Mann an – klar, das muss Jeanettes Tourguide Rafael sein. Sie hatte ihm eine SMS geschrieben, in der sie uns ankündigte, leider hatten wir uns verpasst.
Der große Platz, auf dem auf dem Hinweg der Viehmarkt stattgefunden hatte und wo wir so gern noch etwas Landluft geschnuppert und fotografiert hätten, ist – bis auf die tierischen Hinterlassenschaften – wie leergefegt. Schade.
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Verschaffen wir uns mal einen Überblick!
Korcë Teil 2
Ich setze mich in voller Montur im Gärtchen unserer Pension „Bujtina Leon“ in die Sonne, Rendel macht sich auf, Pizza zu besorgen, die wir uns dann schmecken lassen. Danach geht sie nochmal los, die Stadt zu erkunden, bis zu ihrer Rückkehr werde ich meinen „Platz an der Sonne“ nicht mehr verlassen, zum Schluss schlaf ich sogar ein (es ist der erste Tag, an dem sich die Sonne wirklich durchsetzt).
Bevor wir uns wieder zu „Vasili“ aufmachen, wollen wir, unter Einbeziehung dessen, was Rendel schon erkundet hat, zusammen die Stadt besichtigen. Hauptachse bildet der „Bulevardi Republika“, an dessen einem Ende die Kathedrale steht, am anderen ein futuristisch-moderner Turm, ganz in weiß, oben mit dem in Rot gehaltenen Schriftzug „RED“.
Gleich eingangs des Boulevards befindet sich das „Museum für albanische Bildung“ (auch „ABC-Museum“ genannt, worauf auch die dort platzierte Skulptur aus den drei Buchstaben hinweist). Das Gebäude hat für Albaner einen hohen Symbolwert, denn hier wurde Ende des 19. Jahrhunderts die erste albanischsprachige Schule eröffnet – noch unter osmanischer Herrschaft, aber schon säkular und religionsübergreifend.
Das Osmanische Reich hat natürlich, vor allem im mehr südlichen Teil des Landes, seine Spuren hinterlassen. In Korcë lässt sich das noch gut im Viertel „Alter Basar“ erkennen. Leider sind am heutigen Sonntag alle Lädchen verrammelt, der große, eigentlich optisch sehr attraktive Marktplatz in der Mitte ist völlig ausgestorben. Wir erkunden noch ein wenig die Gassen drum rum, hier sind viele Häuser sehr heruntergekommen, teilweise verfallen (wobei das etwas Morbide für den Besucher natürlich durchaus auch seinen Charme hat).
Über den Zweck des genannten „RED“-Turms sind wir uns zunächst im Unklaren, ich tippe auf eine optisch aufgepeppte Variante eines Trockenturms für Feuerwehrschläuche. Darauf, dass es einfach nur ein Aussichtsturm sein könnte, komme ich angesichts des überall deutlich zutage tretenden Mangels nicht. Wir lösen ein Ticket für den Aufzug – zwei Knöpfe „0“ und „10“ – und fahren auf die Aussichtsplattform (wobei man auch die Treppe nehmen könnte …). Die Sicht ist klar, und so kann man die Stadt und ihr Umfeld schön sehen – wenn nicht eine Horde von Jugendlichen mit ihren Selfie-Sticks überall im Weg stünde. Wir merken, dass sie – nicht unfreundlich oder gar böse – über uns flachsen. Als Rendel sie dann überraschend und unter Aufbietung ihrer sämtlichen Albanischkenntnisse direkt anspricht, wendet sich die Atmosphäre schlagartig. Die Jugendlichen gucken verdutzt, einige machen die typische „Hand-aufs-Herz“-Geste und begrüßen uns freundlich, fragen: „Sprecht ihr etwa Albanisch?“ – Was so ein paar Wörter ausmachen.
Wir wissen nicht, wann „unser Italiener“ aufmacht, auf jeden Fall ist es fürs Abendessen noch ein bisschen früh. Ich bin des Bummelns überdrüssig, auch, weil mir meine Schulter wieder ziemlich schmerzt. Trotzdem streifen wir noch ein bisschen durch die Gegend. Ein halbverfallenes Haus, tendenziell Jugendstil, hatte es mir schon gestern angetan, an der Fassade prangt in abblätternder Farbe der Schriftzug „Studentit“, was „Schüler“ bedeutet, der vormalige Zweck erschließt sich uns letztlich nicht, aber im Abendlicht gibt es ein paar schöne Bilder.
Jetzt aber los – „Vasili“ wartet sicher schon! Hat aber noch zu. Ob der sonntags vielleicht? Nein, nicht möglich, denn der Kellner hatte unserem gestrigen „Bis morgen!“ nicht widersprochen. Wir drücken uns noch etwas vor dem Eingangstor herum, schließlich frage ich einen Nachbarn, der mir mit dem bekannten „Time out“-Handzeichen bedeutet, dass das Lokal sonntags geschlossen hat. Katastrophe! Was soll denn jetzt aus uns werden?
Enttäuscht ziehen wir ab. Auf irgendeinen Fastfood-Laden haben wir keine Lust, mein Rücken schmerzt, ich habe Hunger. Ich hocke mich auf dem Vorplatz der Kathedrale auf eine Bank und schaue den kleinen Kindern zu, die auf Elektroautos erste Fahrstunden nehmen. Rendel eilt zur Pension, um einen neuen, möglichst gleichwertigen Tipp zu ergattern (eigentlich unmöglich!). Doch, es gäbe da noch etwas Gutes – das „Find Four“ nur einige hundert Meter entfernt. Der Laden verdankt seinen Namen den vier Ebenen, auf denen verschiedene Gastronomieformen angesiedelt sind: eine Pizzeria, ein Café, ein richtiges Restaurant und auf dem Dach eine Bar. Wir wählen die dritte Etage, modern, originell, fast improvisiert eingerichtet. Die Karte ist übersichtlich, verspricht aber – wenn sie das halten kann – Gutes. Rendel entscheidet sich für Risotto mit Trüffeln und Pilzen, mich macht die Aussicht auf das Schweinefleisch mit Obst, Pinienkernen und Nüssen an, zusammen nehmen wir einen schönen Salat. Was soll ich sagen: wieder mal ein Gedicht! Vor allem die Fleischgerichte schmecken in Albanien noch nach dem, wie man bei uns ahnt, dass Fleisch schmecken könnte. Auch der offene Wein ist außerordentlich gut, zum Durstlöschen zwei Flaschen San Pellegrino. Die erwähne ich ausdrücklich, weil jeder weiß, wie dieses (vermeintliche) Edelwasser bei uns im Restaurant zu Buche schlägt. Kurzum: Die heutige Zeche beläuft sich auf 24 Euro! Wenn man bedenkt, dass das ja auch keine Sozialtarife sind, also auch die Wirte auf ihre Kosten kommen müssen …
Versöhnt verlassen wir die gastliche Stätte, schaffen die paar Meter zur Pension auch noch – und fallen müde und zufrieden ins Bett, wobei ich mir beim Wegdämmern schon Gedanken über unser morgiges Ziel mache: den von Hugh empfohlenen Ort Zaroshke am Prespa-See (wobei mir „Zaroshke“ eigentlich ein wenig zu grob „russisch“ klingt, um schön sein zu können).
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„Hugh sei Dank!“ – „Who?“ – „Na, Hugh!“
Von Wilderern und krausen Köpfen
Zaroshke/Großer Prespa-See
Das Frühstück in unserem Guesthouse ist „irgendwie“ sehr gut, aber auch „irgendwie“ gewöhnungsbedürftig. Ein Zugeständnis an die häufig aus England stammenden Gäste ist der – würg! – Porridge, obendrein noch mit Schafskäse aufgepeppt, dazu, ebenfalls eher englisch, Würstchen. Dann aber auch sauber filetiertes und arrangiertes Obst, Gemüse, Eier nach Wunsch – sehr viel, was aber den Vorteil hat, dass jeder ausreichend findet, um satt zu werden. (Jeder Gast bekommt alles serviert, also kein Buffet zur individuellen Auswahl.) Die Zeit reicht noch, um zumindest das fröhlich und aufgeschlossen wirkende Paar, das uns schon gestern aufgefallen war, nach seiner Herkunft zu befragen: Sie ist Französin, er Russe, beide leben abwechselnd in Paris und Moskau.
Dafür war wirklich noch genug Zeit, denn unsere heutige Etappe wird mini-mini-mini sein, ganze 30 Kilometer. Statt für den bekannteren und größeren Ohrid-See haben wir uns, zumindest zunächst, für den etwas kleineren Großen Prespa-See entschieden, die Empfehlung von Hugh nimmt uns zudem die Entscheidung ab, welchen der Orte wir dort ansteuern. Die letzten Kilometer vor Zaroshke, zum Schluss über den 1.100 Meter hohen Sternen-Pass, lassen schon ahnen, dass es eine gute Wahl war, denn der kleine Ort liegt wirklich traumhaft – das Seeufer auf der einen, Berge im Hintergrund auf der anderen Seite.
Die Strecke ist gut zu fahren, das „Aleksandar“ am Rande des Dorfes schnell gefunden. Die laute Musik, die uns unüberhörbar entgegenschallt, lässt uns erst ein wenig zusammenzucken (wie kann man diese Idylle so stören?), ist aber in den nächsten Tagen kein Problem. Der Inhaber spricht ausreichend Englisch, kurz drauf beziehen wir ein schönes Zimmer mit Seeblick für 20 Euro incl. Frühstück. Eine deutsche Wandergruppe ist gerade abgereist, wir scheinen die einzigen Gäste in dem recht neu und sehr sauber wirkenden Haus zu sein. Aber das scheint nur so. Als ich unser Gepäck hochschleppe, sehe ich, wie Rendel sich auf dem Treppenabsatz mit einer Frau unterhält: Jeanette, unsere Frühstücksbekanntschaft aus Korcë! So schön traute Zweisamkeit im Urlaub ist, wir freuen uns auch immer über neue Bekanntschaften. Noch bevor wir uns einrichten vereinbaren wir, dass Jeanette sich um eine Bootstour zur Klosterinsel Maligrad kümmert. Aber vorher schildert sie uns noch ihre Befürchtung, heute wie am Vorabend Karpfen aus dem See essen zu müssen. Wir beruhigen sie – da fände sich bestimmt auch was anderes.
Hinter dem Hotel erstreckt sich ein Garten mit lauschigen Sitzecken, danach, nach ein paar Metern Sumpf, beginnt schon der Schilfgürtel des Sees. Unsere Zimmer haben Mückengitter, die Quälgeister haben aber wohl noch keine Saison.
Der Bootstrip ist terminiert, wir sollen in den nächsten Ort marschieren, uns dort an der Schule einem Lehrer („Professor“) anvertrauen, der dann alles Weitere regeln wird. Besagter Professor ist noch ein ziemlicher Jungspund, Lehrer für Geografie, aber nett und hinreichend kompetent. Sein Englisch ist nicht gut, weswegen er einen Übersetzer mitbringt. Zunächst soll es zur dorfeigenen „Music Hall“ gehen. Habe ich richtig verstanden? Rendel meint auch, „Music Hall“ verstanden zu haben. Na, dann zeig mal! Zunächst geht es aber durch das Dorf. Abgesehen von spärlichen Hinweisen auf die Neuzeit, scheint in Liqenas (albanisch; mit Blick auf die hiesige mazedonische Bevölkerung heißt es jetzt Pustec) die Zeit vor 200 Jahren stehen geblieben zu sein: kaum Autos, Karrenwege, Heureiter zum Trocknen, teilweise verfallene, von Erdbeben zerstörte Häuser, dazu Esel, Esel, Esel – nicht als nostalgischer Zierrat, sondern, wie wir noch sehen werden, als Lasttier und Traktorersatz.
Durch einen Garten nähern wir uns einem Häuschen, vor dem ein augenscheinlich dementer alter Herr vor sich hindöst. Die vermeintliche „Music Hall“ erweist sich als „Museum“. Der Alte hat auf zwei Etagen über die Jahre Material gesammelt und so arrangiert, dass man sich in einem kleinen ethnologischen Museum wiederfindet. Hausrat, Möbel, handgestrickte grobe Socken, Kleidung, Aussteuer, dazu alte Fotos von Persönlichkeiten und Ereignissen des Dorflebens (und eine komplett wirkende Sammlung der Schriften Enver Hoxhas). Wir nehmen die Exponate als Anknüpfungspunkt, uns ein wenig über die Bedeutung des Kanun, dieses lange Zeit nur mündlich tradierten Regelwerks Albaniens, zu unterhalten. (In dem Zusammenhang wird meist auf das Thema „Blutrache“ abgestellt, der Kanun regelte aber fast alle wesentlichen Belange menschlichen Zusammenlebens. In den abgelegenen Berggegenden Nordalbaniens galt der Kanun bis in die Zeiten des Kommunismus, der ihn aber auch nicht ganz abschaffen konnte. Gewisse Grundprinzipien wirken auch heute noch nach, etwa die Stellung des Gastes, der gleich hinter Gott rangierte – was wir auch noch ansatzweise zu spüren bekamen. Dieser Regelung ist es auch zu verdanken, dass es auf albanischem Gebiet – zumindest vonseiten der Bevölkerung – keine Judenverfolgung gab. Viele Albaner haben zur Zeit des Dritten Reichs Juden Unterschlupf gewährt oder ihnen falsche Papiere besorgt. Albanien gilt als das einzige europäische Land, in dem die Wehrmacht gewütet hat, in dem aber nach dem Krieg mehr Juden lebten als zuvor.) Leider sind unsere beiden Führer da nicht der richtige Ansprechpartner, vielleicht deshalb, weil sie Mazedonier sind. Wir lassen 1000 Lek da (etwa 7,- Euro), nicht zu viel für diese kleine Führung.
„Professor“ geleitet uns noch bis an den See, wo ein knallroter Motor-Katamaran mitsamt Käpt’n auf uns wartet. Trotz des ruhigen Sees müssen wir umgehend Schwimmwesten anlegen und uns gewichtsmäßig günstig auf dem leichten Boot verteilen. „Leinen los! – Leinen sind los!“ (Asterix als Legionär …) Statt des in der Türkei zu erwartenden infernalischen Dieselgeknatters ist nur ein leises Brummen zu hören. Das Boot hat einen Elektroantrieb, gespeist von den auf dem Dach angebrachten Solarzellen. Respekt! Das ist einem Naturschutzgebiet angemessen.
Das Ensemble Ohrid- und Großer und Kleiner Prespa-See gehört zu den ältesten Seen der Erde. Der Große Prespa-See (oder einfach Prespa-See) hat eine Fläche von etwa 270 Quadratkilometern, sein Wasserspiegel liegt auf etwa 850 Metern. Er ist sehr fischreich und stellt zudem den Lebensraum für viele seltene Tier- und Pflanzenarten dar. Den Großen Prespa-See teilen sich Albanien, Mazedonien und Griechenland, der kleine gehört, abgesehen von einem winzigen albanischen Zipfel, ganz den Griechen. Interessant ist zudem, dass der (größere) Ohrid-See seinen Wasserzufluss unterirdisch vom Großen Prespa-See erhält.
In solchen Gegenden bedauern wir immer, uns bei Flora und Fauna nicht besser auszukennen. Aber der hier noch heimische, wiewohl immer seltener anzutreffende Krauskopfpelikan ist leicht zu identifizieren, ganz im Gegensatz dazu, diese scheuen Tiere, die geflissentlich Abstand halten, auf einem schwankenden Boot, noch dazu mit Tele, scharf abzulichten. Ein paar brauchbare Bilder kommen aber doch dabei heraus. Wir umrunden die kleine Insel Maligrad, die wir aber leider nicht betreten dürfen. Gerne hätten wir die malerische Marienkapelle aus dem 14. Jahrhundert besichtigt. Aber egal: Der Ausflug hat schon so mehr als gelohnt, obendrein hat die Bootstour für uns drei pauschal nur 20 Euro gekostet.
Mittlerweile ist es warm geworden, an einem kleinen Lädchen laden Stühle zur Rast ein. Jeanette und ich genehmigen uns ausnahmsweise schon um diese Zeit ein Bier und stillen den Hunger vorläufig mit Chips (wobei ich vermute, dass Jeanette für den Fall vorbeugen will, dass es heute Abend doch wieder Karpfen geben sollte …).
Auf dem Heimweg überholt uns ein Auto – etwas Dunkles zischt an meinem Kopf vorbei. Sekunden später realisiere ich, dass das eine Sense war, die ein Landmann aus Platzgründen aus dem Fenster ragen ließ. Puuuh, dem Sensenmann gerade nochmal entwischt!
Nein, es gab auch etwas anderes als Karpfen.
Nach dem Essen gesellt sich Jens zu uns, ein Biologielehrer aus Österreich, der etappenweise mit dem Kajak unterwegs ist. Jeanette und er tauschen sich über ihre Wanderungen in der Gegend aus, Jens klärt uns über den Balzruf der Schnepfe auf, der deutlich zu hören ist, weist uns für unsere morgige Wanderung auf Nisthöhlen im Ufersand hin und äußert seine Besorgnis über die vielen Staudammprojekte auf dem Balkan, die den Lebensraum vieler Arten bedrohen. Die lateinischen Namen hat er dabei auch immer gleich parat, jedoch ohne irgendwie abgehoben zu wirken. Netter Abend mit netten Leuten.
Schon am frühen Abend fragte ich mich, wonach der Chef des Hauses mit seinem Feldstecher sucht. Bei Anbruch der Dämmerung sehe ich, wie zwei Männer, der eine im Neoprenanzug, vom See her auf das Hotel zukommen, irgendwas Schweres im Schlepptau. Als sie unter unserer Terrasse vorbeikommen, erkenne ich es: ein (wirklich) riesiger Fisch, Jens identifiziert ihn als Wels, so schwer, dass sie ihn über den Boden schleifend hinter sich herziehen. Als ich schnell ein Foto machen will, schallt mir ein „No!“ entgegen. Fischwilderer! Der Patron hat Schmiere gestanden, denn am nächsten Tag machen wir Bekanntschaft mit Polizisten, die auf Fischwilderer angesetzt waren. (Der Wels ist eigentlich im Prespa nicht heimisch, ist für die anderen Fische ein Fressfeind. Trotzdem fällt er unter das Fangverbot. – Am nächsten Tag ist das Hotelrestaurant überraschend voll, ich kann beobachten, wie einer Gruppe von Männern Riesenstücke Fisch serviert werden, definitiv kein Karpfen …)
Am nächsten Morgen machen wir uns selbst zu einer Wanderung auf. Vielleicht bekomme ich ja doch noch einige Reiher, Kormorane oder sogar Pelikane vor die Linse. Der Weg direkt ans Ufer mündet regelmäßig im Sumpf. Wir queren eine Wiese, um trockenen Fußes ins nächste Dorf zu gelangen. Überall arbeiten fleißige Menschen auf den Äckern und Feldern, fast alle ohne mechanische Unterstützung, mit Sense, Sichel und Heugabel. Für den Beobachter Idylle pur, wie man sie in Europa nicht mehr erwartet hätte. Wie zufrieden die Menschen sind, sei dahingestellt, auf jeden Fall sind sie sehr freundlich, grüßen und winken, nett anzusehen vor allem die Frauen mit ihren breitkrempigen Strohhüten.
Ein wenig Einblick in die Befindlichkeit der Menschen wird uns durch eine Begegnung gewährt, die uns als die eindrücklichste unserer Reise in Erinnerung bleiben wird: Auf der Uferwiese passt ein älterer Herr auf seine Kühe auf. Wir wollen im Vorbeigehen freundlich grüßen, er winkt uns jedoch zu sich. Keine Chance, sich zu unterhalten, lediglich das übliche Begrüßen und die Frage nach dem Woher. Irgendwie entwickelt sich aber doch so etwas wie ein Gespräch. Ohne dabei auch nur ansatzweise den Anschein von Bettelei zu erwecken, zupft der alte Herr an seiner fadenscheinigen Jacke um anzudeuten, wie ärmlich das Leben hier ist. Er tut seine Sympathie für Europa kund, während ich – das müsste auch von einem Mazedonier zu verstehen sein – sage: „Kommunismus – Katastrophe“, einer Aussage, der er vehement beipflichtet. Dann hält er sich die Hand vor die Brust und meint: „Christos“, worauf ich meinerseits erwidere: „Detlev“. Er ahnt das Missverständnis und versucht, zu korrigieren. Er legt den Kopf auf seine zusammengelegten Hände, das Zeichen für „schlafen, tot sein“, dann weist er mit dem Zeigefinger nach oben, „auferstanden“. „Christus war tot und ist auferstanden!“ Uns als Christen geht das Herz über, ich erwidere, indem ich mir auch auf die Brust schlage und entsprechend auch auf Rendel weise: „Christos!“ Die Reaktion unseres – jetzt wieder namenlosen – Gegenübers werde ich nie vergessen. Er weint, ich weine, Rendel weint, er umarmt und küsst mich immer wieder. Unverhofft konnten wir uns, ohne wirklich miteinander sprechen zu können, auf den Punkt verständigen, der uns wirklich wichtig ist.
Wir umarmen uns noch einmal und ziehen weiter, ziemlich geplättet von dieser Begegnung.
Wir halten wieder auf das Seeufer zu in der Hoffnung, den Vögeln etwas näher zu kommen. Am Ufer steht ein Polizist, zwei seiner Kollegen suchen langsam mit einem Boot das Ufer ab. Als ich zum Fotografieren ansetze, bewusst nicht die Polizisten, versuchen die beiden auf dem See dies auch prompt zu verhindern. Ich versichere dem dritten, dass es mir nicht um sie geht, und darf dann ungestört meine Bilder machen.
Immer wieder müssen wir weite Bögen machen, weil sumpfiges Gelände kein Durchkommen ermöglicht. Wir durchwaten einen kleinen Bach und kommen schließlich doch bis an den See, dort, wo die Felsen bis fast ans Ufer reichen. Wir dösen ein wenig in der Sonne, ich laufe ein paar hundert Meter, vorbei an einer Höhle, die eine kleine Kapelle beherbergt. Nicht mehr weit und ich müsste in Griechenland sein. Zumindest ein gelungenes Pelikanfoto ist die magere Ausbeute. Auf dem Rückweg kommen wir noch an zwei Polizisten vorbei, die sich als die beiden herausstellen, die heute Morgen im Boot unterwegs waren. Noch ein bisschen Smalltalk auf Englisch, dann machen wir uns auf den Heimweg.
Jeanette will weiter nach Gjirokaster, hat aber, unserem Rat folgend, ihre Unterkunft in Sarande storniert und stattdessen das „Livia“ in Butrint gebucht. Hier am Prespa haben wir zwar erst das erste Drittel unserer Reise hinter uns, unstrittig ist aber schon jetzt, dass wir hier auf jeden Fall noch einmal hin müssen. (Vielleicht auch per Flieger über Tirana (200 km), dann mit dem Mietwagen. Ohrid hat auch einen internationalen Flughafen, wird aber nur selten angeflogen.)
Auch hier – der Vollständigkeit halber und für potenzielle Nachahmer – die Kostenaufstellung: DZ/FR 20 Euro/Nacht; dazu haben wir für zwei Abendessen, Wein, Bier, Raki, mittags Suppe/Salat sowie eine Maschine Wäsche 24 Euro dagelassen – bin gespannt, wann wir mal etwas rausbekommen …
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Frommer Nippes und eine Dorfschönheit
Zaroshke–Sveti Naum–Lin
Heute soll es zumindest mal kurz nach Mazedonien gehen. Dazu müssen wir zunächst auf herrlicher Strecke am Südwestufer des Prespa entlang, dann die verheißungsvoll kurvig eingezeichnete Passstraße über den Berg, die dann zum Ohrid-See abfällt. Mittendrin dann noch der Grenzübergang. Die Passstraße führt über den so genannten Galičica-Sattel auf 1.564 Meter Höhe. Nach der zügigen Grenzabfertigung beginnt das, was bezeichnenderweise auf der Radfahrer-Internetseite „quaeldich.de“ beschrieben wird – eine Kurvenstrecke durch komplett bewaldetes Gebiet mit zum Schluss atemberaubender Aussicht. Unsere Qual hält sich in Grenzen, wir genießen die Fahrt ohne Ende, zumal uns von der Grenze bis zu einem Aussichtspunkt schon weit im Westen kein einziges Fahrzeug begegnet, geschweige denn, überholt. An besagtem Aussichtspunkt, der einen weiten Blick über den Ohrid-See bietet, begegnen wir einem kleinen Trupp deutscher Motorradfahrer. Sie gehören zu einer größeren Gruppe, die sich, um jedem sein individuelles Tempo zu lassen, etappenweise getrennt hat.
Wir schrauben uns zum See hinunter, am Ende der Straße müssen wir eine Art Eintrittsgeld in die Gegend bezahlen (€ 2,- p.P.). Ziel ist das Kloster Sveti Naum am Südufer des Sees, kurz vor der dortigen albanischen Grenze. Das Kloster haben wir ins Auge gefasst, weil es an sich sehenswert sein und zum Komplex zudem ein schönes Hotel gehören soll.
Schon der große Parkplatz mit den Reisebussen lässt uns an unserer Wahl zweifeln. Wir betreten das Areal durch ein Eingangstor, an das sich eine lange Reihe von Nippesbuden anschließt: Ikonen, Heiligenbildchen, mazedonisches Folkloregedöns, hin und wieder etwas nettes Kunstgewerbliches. Aber Bude an Bude, an die dreißig, fast alle mit demselben Zeugs. Dann folgt eine Reihe überdachter Freiluftrestaurants, die auf Massenabfertigung ausgelegt sind. Schließlich, kurz vor dem eigentlichen Kloster, werden Bootstouren zur Hauptquelle des Sees angeboten, dort, wo das Wasser des Prespa, der ja den Ohrid speist, austritt. Das wäre gegebenenfalls das einzige, was uns hier bislang reizen könnte, aber wir wollen ja ins Kloster gehen.
Die Anlage, soweit begehbar, ist schön, aber doch arg auf Tourismus getrimmt. Ich lausche dem Mönchsgesang, der wohl aus einer Kapelle kommt, als Rendel mich aus meiner Andacht reißt: „Das kommt vom Band!“ Frommes Disneyland wäre ein zu hartes Urteil, aber nah dran. Mag aber auch daran liegen, dass einem Protestanten das Ganze per se zu überladen und der Frömmigkeitsstil zu fremd ist. Nett anzusehen ist der ganze Schwarm von Pfauen, die das Gelände bevölkern und sich prächtig spreizen. (Überall warnen Schilder davor, dass die großen Vögel einen auch angreifen und verletzen können.)
Uns reichts. Dass wir hier nicht auch noch die Nacht verbringen wollen, versteht sich von selbst. Nach einem kurzen Plausch mit einigen Motorradfahren aus Bukarest starten wir wieder, zunächst ein Stück den Hinweg zurück mit Kurs auf die Stadt Ohrid am Nordostufer des Sees.
Ich hatte uns bei der Planung der Reise eine Unzahl von „Points of Interest“ zusammengesucht und auf das Navi geladen, so viele, dass ich auf dem kleinen Bildschirm schon den Überblick verliere. Als ich dann das Schild „Bay of Bones“ sehe, fällt mir auch dieser POI auf dem Navi auf. Ich hatte ihn mir nach einem Fernsehbericht rausgesucht, denn das schien tatsächlich interessant zu sein. Wir parken, lösen die Eintrittskarten und laufen ein Stück Richtung Seeufer. Die „Bay of Bones“ („Knochenbucht“) beherbergt ein kleines römisches Kastell, Hauptattraktion ist jedoch die Rekonstruktion eine Pfahlbautensiedlung im See. Wenngleich nicht so alt und nicht ganz so spektakulär wie das Pendant in Überlingen am Bodensee, ist es doch sehr schön rekonstruiert und entsprechend sehenswert. Während die Ursprünge der Überlinger Pfahlbauten teilweise bis in die Steinzeit zurückreichen, also in die Zeit um 4000 v. Chr., datieren die am Ohrid-See in die Zeit zwischen Bronze- und Eisenzeit, sprich: etwa 1200 bis 1000 v. Chr.
Wir sind alleine auf dem Gelände und können uns ungestört umsehen. Als wir wieder starten, sehe ich, wie ein Paar, das mit einem Wohnmobil mit französischem Kennzeichen dort parkt, uns interessiert hinterhersieht.
Ohrid muss schön sein, uns ist aber – wie meistens – nicht nach Stadt, dafür aber nach Dorf. Und nicht irgendeines, das „schönste Dorf Albaniens“ muss es schon sein. Am Westufer des Sees, ziemlich genau in Neun-Uhr-Position, queren wir zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden die albanisch-mazedonische Grenze. Zügig gelangen wir zum Qafa e Thanës, dem Kornelkirschenpass. Während wir den hinunterrollen, zeigt sich linker Hand am Seeufer schon der kleine Ort Lin. Bei Superlativen wie „schönstes Dorf“ bin ich immer skeptisch – a) weil das bisweilen Übertreibungen sind, und b) weil es sich, wenn es denn stimmt, häufig um unauthentische, künstlich herausgeputzte Touristenattraktionen handelt. Wir wagen es trotzdem und landen – das sei schon verraten – einen Volltreffer. Wir fahren einmal die kleine Hauptstraße hin und zurück und halten wieder am Ortseingang, wo die Pension „Leza“ Unterkunft bietet. Der Wind wird zwar ein Abendessen auf der in den See gebauten Terrasse nicht erlauben, aber das Zimmer mit Seeblick ist schon mal schön. Im kleinen Schankraum, der auch als Restaurant dient, herrscht ein Kommen und Gehen, augenscheinlich ist es gleichzeitig die Dorfkneipe. Der Bereich um die Pension ist eher nicht das, was zum Titel „schönstes Dorf“ beitragen könnte, aber das ist ja erst der Ortseingang. Zunächst nutzen wir die Zeit, um die einzige geschichtliche Attraktion des Dorfs zu besichtigen, die Reste einer Kirche mit altem Mosaik aus dem 6. Jahrhundert. Unser Wirt beschreibt uns den Weg, die Stätte liegt über dem Dorf auf einem Hügel. Stiekum fotografiere ich ein Mädchen vor einem nett anzusehenden Haus, worauf dieses schnurstracks auf uns zukommt (das Mädchen!). Grund war jedoch nicht etwa ein unschickliches Verhalten meinerseits, vielmehr verwaltet die Familie des Mädchens den Schlüssel zur Ausgrabungsstätte, man hat uns also erwartet. Die vielleicht Dreizehnjährige ist sehr freundlich, etwas schüchtern, versteht sich aber mit Rendel gut. Sie geht voraus und schließt ein Gatter auf. Von dem Kirchlein sind fast nur noch die Grundmauern erhalten, sehenswert ist jedoch ein gut erhaltenes Mosaik, das an Ort und Stelle belassen und, gegen Witterungseinflüsse, mit eine Plane abgedeckt wurde. Zudem bietet der Ort einen schönen Überblick über das Dorf. Ich hatte mir 200 Lek (€ 1,50) zurechtgelegt, was dann auch genau dem erbetenen Obolus entspricht, lege noch 100 drauf – vielleicht muss sie das dann nicht abgeben.
Was macht also das „schönste Dorf“ aus? Zunächst einmal ist es tatsächlich ein Dorf mit entsprechend ursprünglichem Charakter – eine Haupt-Dorfstraße, eine Moschee, eine gepflegte, recht große orthodoxe Kirche und ein ziemliches Gassengewirr. Besonders auffällig sind die kleine Gässchen, die zwischen den Häusern Richtung See herlaufen. An deren Ende liegen zumeist ein bis zwei Boote, kleine Privathäfen. Die Häuser sind zum Teil etwas baufällig, doch ist alles recht gepflegt. Zur Atmosphäre trägt vor allem bei, dass zu dieser nachmittäglichen Stunde überall Menschen auf den Treppen vor den Häuschen sitzen und plauschen. Etliche Male müssen wir stehen bleiben, wieder kommen uns Rendels rudimentäre Sprachkenntnisse zugute. Die, zumeist älteren Leute, wirken traditionell, aber sehr aufgeschlossen und freundlich, wir fühlen uns wirklich willkommen. Durch eines der Gässchen laufen wir auf die Moschee zu, vor der zwei ziemlich alte, schwarz gekleidete Frauen in der Abendsonne ein Schwätzchen halten. Wie meistens, zögere ich, diese nette Szene zu fotografieren. Wir grüßen, Rendel bleibt stehen, während ich mich zunächst im Hintergrund halte. Wieder entspinnt sich ein, im Rahmen der Möglichkeiten, nettes Gespräch: „Hast du Kinder?“ – „Nein, aber einen Mann!“ – „Na, dann ist ja alles gut!“ Die drei verstehen sich gut, eine der Omis drückt Rendel mit ihrem fast zahnlosen Mund einen Kuss auf die Wange – und ich darf, jetzt offiziell, doch noch fotografieren.
Rendel ist mittlerweile überzeugt, den richtigen Ort gefunden zu haben, in dem ich meinen Roman schreiben sollte.
Wir haben uns ja im „Leza“ einquartiert, was absolut keine schlechte Wahl ist. Mitten im Ortskern entdecken wir dann jedoch das „Guesthouse Lin“, eine putzige kleine Pension, geführt von einem freundlichen Ehepaar, das kaum Englisch spricht. Sollten wir noch einmal in Lin aufschlagen, wäre das sicher die Unterkunft unserer Wahl. Auf dem Rückweg treffen wir das französische Wohnmobil-Paar, das uns am „Bay of Bones“ hinterhergeschaut hat. In Zivil erkennen sie uns natürlich nicht, wir stellen uns vor und quatschen noch ein wenig.
Wer etwas über den Ohrid-See liest, stößt unvermeidlich auch auf den „Koran“, was in diesem Fall nicht das Buch der Moslems bezeichnet, sondern eine im See vorkommende Fischart. „Koran“ ist der albanische Name für die Ohrid-Forelle, eines wohlschmeckenden Speisefischs, der, wegen Überfischung, von der Ausrottung bedroht ist. Optisch zeichnet er sich durch sein rosa Fleisch und die roten Punkte an der Seite aus. Trotz des zurückgehenden Bestandes wird immer empfohlen, diesen Fisch auf jeden Fall zu probieren, auch im „Leza“ steht er auf der Karte. Meine Skrupel lassen mich etwas genauer recherchieren, schließlich bringe ich in Erfahrung, dass es sich bei den in Restaurants angebotenen um Zuchtfische handelt. Also ordern wir zwei Portionen – superlecker, zudem sind die Dinger so groß, dass man von einem gut satt wird.
Wir nehmen uns vor, wenn wir nochmal am Prespa-See sind, auch noch ein paar Tage in Lin zu verbringen.
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Zimmer 401
Lin–Kalaja e Bashtovës–Krujë
Während wir beim Frühstück sitzen, tobt im Ort schon das Leben. Durch die geöffnete Tür können wir sehen, wie die Ziegen, Schafe und Kühe, die gestern Abend nach Hause getrieben wurden, wieder auf die Weide ziehen. Andernorts hatte man uns schon erzählt, dass albanische Männer, bevor sie aufs Feld gehen, sich gerne mit einem Raki stärken. Hier sitzen einige, die sich im Laufe unseres Frühstücks schon den dritten servieren lassen – und das in Wassergläsern. Abends bin ich ja auch nicht abgeneigt, aber bei der Vorstellung, den Tag mit Alkohol im Blut anzugehen, schüttelt es mich. Wir zahlen die Zeche vom Vorabend (der Fisch war nicht ganz billig) und das Zimmer, das mit 25 Euro dem üblichen Tarif entspricht.
Um an unser heutiges Tagesziel zu gelangen, müssen wir das kleine Land komplett von Ost nach West durchmessen. Zunächst geht es dazu noch einmal über den Knollenkirschenpass, dann in Richtung Elbasan. Diese Stadt, die ziemlich genau im geografischen Mittelpunkt Albaniens liegt, gilt als Industriestadt. Die Vorstellung von rauchenden Schloten hat mich irgendwie zu der Annahme gebracht, heute eine eher hässliche Strecke vor uns zu haben. Eher das Gegenteil ist der Fall. Zumindest die Strecke bis Librazhd – etwa auf der Hälfte zwischen Lin und Elbasan – ist landschaftlich sehr reizvoll und gut zu fahren. Irgendwo am Straßenrand soll noch ein Rest des originalen Pflasters der „Via Egnatia“ zu sehen sein, jener antiken Handelsroute, die die Via Appia nach Osten fortsetzte und die (heute albanische) Adriaküste mit dem Bosporus verband. Trotz Koordinaten und intensiver Suche können wir die Stelle aber nicht finden.
Zwar müssen wir nicht mitten durch, aber bei Elbasan kann man auch von fern manche Industrieruine erkennen, so hatten etwa die Chinesen zu Enver Hoxhas Zeiten Stahlwerke installiert, die schon seinerzeit im Blick auf Umweltverträglichkeit jenseits von Gut und Böse waren. Einige dieser Relikte der Industriekultur fotografiere ich, bizarr und etwas trostlos.
Wenn es schon mit dem Pflaster der Egnatia nichts war, so möchte ich doch gerne eine Festung nahe der Küste ansteuern, die „Kalaja e Bashtovës“ südlich von Durrës. Das bedeutet zwar einen Umweg, angesichts der uns heute bevorstehenden 250 Kilometer, zumeist über gute Straßen, aber kein Problem. Gegen kurzfristige Änderung der Verkehrsführung ist auch meine aktuelle Navi-Software machtlos, irgendwie gibt es den Abzweig von der Hauptstraße zur Festung nicht! Zu allem Überdruss lässt uns die autobahnähnliche Straße weder wenden noch runterfahren. Ich seh mich schon ungewollt in Durrës, als wir dann doch abfahren können. Als wir uns gerade zu orientieren versuchen, hält neben uns ein Kleinwagen, dem eine etwas schrill gekleidete, dralle junge Frau entsteigt. Sie wirkt quirlig und freundlich, erkundigt sich, wo wir hinwollen. Sofort greift sie zum Handy, um den Weg herauszufinden. Ein weiterer Autofahrer bietet sich an, uns ein Stück vorwegzufahren, bis wir wieder die Richtung haben. Vereint gelingt es ihnen schließlich, uns den Weg zu beschreiben – letztlich lag es doch nicht am Navi …
Die Burg von Bashtova liegt etwa fünf Kilometer von der Küste entfernt unweit des Flusses Shkumbin auf einem großen, flachen Feld. Flussverlauf und Küstenlinie haben sich im Laufe der Zeit verändert; es ist davon auszugehen, dass das Kastell früher näher an diesen Gewässern gelegen war. Die Türme und Mauern umschließen einen etwa 60 mal 90 Meter großen leeren Innenraum. Die Schätzungen bezüglich des Alters der Anlage schwanken stark – zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert. Die Mauern sind so gut erhalten, dass man auf ihnen fast die ganze Festung umlaufen kann. Nachdem eine italienische Familie abgezogen ist, haben wir das Areal für uns. Nicht Carcassonne, aber doch imposant und den Umweg wert.
Unser eigentliches Ziel für heute ist die Stadt Krujë, dazu müssen wir ein Stück durch Durrës, die wichtigste Hafenstadt Albaniens, mit ihrem leicht italienischen Flair und den angrenzenden Stränden auch eines der Haupt-Touristenziele an der Adria. Etwas zäh, aber doch recht zügig kommen wir durch, hoffen, bald wieder freies Terrain vor uns zu haben. Diese Hoffnung zerschlägt sich, als kurz vor uns drei Tanklaster auf die Hauptstraße einbiegen. Sie reihen sich damit in eine endlos wirkende Schlange von LKW ein, zwischendurch einige PKW – und wir. Über etliche Kilometer keine sinnvolle Möglichkeit zum Überholen. Wir akzeptieren das und tuckern im Dieseldunst hinterher. Ich vermute, dass dies die Hauptroute nach Kosova ist, deswegen die vielen LKW. Bei Fushë Krujë (noch nicht unser „Ziel-Krujë“) können wir abfahren und wieder durchatmen.
Die Festung von Krujë, auf einem Gipfel der Skanderbeg-Berge gelegen, gilt als albanisches Nationalheiligtum. Kurz vor dem Ort stoppen wir noch kurz und legen uns auf das Hotel „Panorama“ fest. Dieses ist schnell gefunden und Rendel erkundigt sich nach einem Zimmer. Zeitlich mit uns trifft eine Busgruppe deutsche Touristen ein, zum Glück kann Rendel unseren Zimmerwunsch noch klären, bevor die alle einchecken wollen. Ja, sie haben Zimmer – ein „gutes“ für 40, das „beste“ für 50 Euro. Okay, nehmen wir Zimmer 401, „das beste“. Während ich auf den Schlüssel warte, starrt mich ein Mitglied der Reisegruppe an, als wäre ich ein Marsmännchen. Ich starre zurück und frage: „Alles klar mit Ihnen?“
Bevor wir unser Zimmer beziehen, parke ich die Moppeds noch in der Tiefgarage, direkt am Eingang zur Lobby. Und, was soll ich sagen? Das Zimmer ist wirklich der Knaller. Mein erster Eindruck von Krujë war eher durchwachsen, vor allem der neuere Teil mit seinen hässlichen Hochhäusern stört die Optik gewaltig. Aber jetzt verstehe ich, warum die 401 als bestes Zimmer gilt: oberstes Stockwerk, Eckzimmer mit umlaufendem Balkon, Blick praktisch einzig und allein auf die Berge, die Altstadt und – sensationell – auf die gegenüberliegende Festung und das Skanderbeg-Museum. Rendel ist völlig aus dem Häuschen. Auf den Nachbarbalkonen unterhalten sich Gäste aus der deutschen Reisegruppe, auch fasziniert von der Aussicht, loben sie ihren Veranstalter. Aber kommt erstmal zu uns rüber! Oder besser nicht. Obendrein hat das Zimmer eher Suiten-Charakter, geräumig, perfekt ausgestattet. Das Bett steht direkt unter einem der Panoramafenster, von wo wir später am Horizont die Lichter Tiranas erkennen können.
Ich muss einfach schon Fotos machen, obwohl ich weiß, dass das beste Licht noch kommt. Da wir nur eine Nacht bleiben werden, müssen wir uns schon jetzt zur Besichtigung aufmachen. Der sich direkt vor dem Hotel erstreckende „Basar“ hat etwas Ähnlichkeit mit den Buden am Kloster Sveti Naum, vielleicht etwas besser sortiert, Kenner mögen unter den Handarbeiten sicher das eine oder andere lohnenswerte Stück finden, authentischer Basar ist aber anders. Der Festungshügel wird von zwei Gebäuden dominiert – einem mächtigen Festungsturm und dem neueren, burgförmig angelegten Skanderbeg-Museum. Der Festungsturm wird als „Kulla“ bezeichnet, was eigentlich nur „Turm“ bedeutet. Diese Art Türme kann man hier und dort in Albanien noch finden. Die meist zwei- bis dreistöckigen Wehrtürme wurden auch als Wohnhäuser benutzt und behielten ihren Festungscharakter – zum Schutz bei Belagerungen und nicht selten auch als Zufluchtsort für von Blutrache Bedrohte (für die der Turm dann manchmal zum lebenslangen Gefängnis wurde). Wir lichten den Turm von allen Seiten ab und werden dabei von einem jungen Mann angesprochen, der uns noch die danebenliegenden Reste eine Kirche zeigt.
Das Skanderbeg-Museum widmet sich einzig und allein Leben und Wirken des albanischen Nationalhelden. Skanderbeg, ursprünglich Gjergj Kastrioti, wurde am Hof des Sultans in Adrianopel (Edirne) erzogen und konvertierte zwangsweise zum Islam. Später besann er sich seiner Wurzeln und kämpfte für sein Volk gegen die Osmanen. Das Museum zeigt Darstellungen des legendären Helden (häufig mit dem charakteristischen Helm, auf dem ein Ziegenkopf befestigt ist), seiner Wegbegleiter, seiner Taten – alles etwas heroisch überhöht, aber doch sehenswert.
Wir schauen uns noch ein wenig um, vor allem in den Altstadtgassen, sehr pittoresk. Im Umfeld der Festung gibt es einige Restaurants, wir entscheiden uns für Pizza, mal was Einfaches, aber lecker. Zwar ist der Blick von unserem Platz sehr schön, die nervige und zudem laute Techno-Musik vergällt uns jedoch einen längeren Aufenthalt. Aber auf uns wartet ja die 401. Im Abendlicht wirkt die ganze Szene noch beeindruckender, wir genießen in tiefen Zügen, ich auch aus dem Weinglas. Der Wein wurde uns standesgemäß aufs Zimmer gebracht (aber nicht „aufs Haus“), wobei der Kellner noch bemerkte: „Oh, the best room!“ Meist bitten wir in Hotels um zwei Einzelbetten, aber dieses Doppelbett ist so riesig, dass wir einander nicht in die Quere kommen, zumindest nicht ungewollt …
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„Per aspera ad after“ – Auf rauen Wegen an den Arsch der Welt
Krujë–Pukë–Fierze–Bajram Curri
Das Frühstück ist ausgezeichnet, ich zahle und stelle die Moppeds raus. Das Navi schlägt vor, nicht zunächst wieder den Weg über Fushë Krujë zu nehmen, sondern eine Abkürzung. Wir nehmen den Vorschlag an, bereuen es aber schnell, denn das ist von Anfang an ein übler Karrenweg, was angesichts der vor uns liegenden Strecke nicht so gut kommt. Also drehen und doch erstmal die Strecke vom Vortag. Heute soll es endlich in den Norden gehen, in die Nähe der Albanischen Alpen. Ursprünglich hatten wir geplant, die berühmte Fährpassage über den Koman-Stausee von West nach Ost, also von Koman nach Fierze zu machen. Dann baten uns jedoch Freunde, die in Deutschland einen todkranken Albaner aufgenommen haben, dessen Eltern ein Blutdruckmessgerät mitzubringen. Diese Bitte lässt sich mit der Fährfahrt in der Richtung nicht verbinden. (Die Straße nach Pukë verläuft im Prinzip parallel zum langgezogenen Koman-Stausee, voneinander getrennt durch hohe Berge.) So lassen wir den Wegweiser zum Koman-Fähranleger links liegen und halten auf Motorradfahrer-Traumsträßchen auf Pukë zu – solche Umwege nimmt man gern in Kauf. Pukë gilt als ärmste Gemeinde Albaniens, hochverschuldet, was aber auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. Da die Adressaten unseres Mitbringsels irgendwo schwer erreichbar in den Bergen wohnen, wurde uns die Telefonnummer eines weiteren Sohnes genannt, mit dem wir uns treffen sollen. In einem Hotel in der Ortsmitte fragen wir nach, ob uns jemand bei der Kontaktaufnahme helfen könnte. Kurz drauf erscheint ein zottelbärtiger junger Mann, dem ich unser Anliegen erklären möchte. „Ich weiß“, entgegnet dieser, „ich kenne euch, habe im Internet eure Fotos gesehen.“ Er war im Blick auf unsere Mission voll im Bild. Da wir unseren Ankunftstag nicht im Voraus wussten, konnte sich der Sohn nicht bereithalten, jetzt war er gerade weiter weg. Wir entschließen uns, dem Zottelbart das Blutdruckgerät dazulassen und machen uns wieder auf den Weg.
Unser Plan ist, in Fierze zu übernachten, morgen früh die Fähre zu nehmen, dann weiter nach Montenegro. Der Koman-Stausee gehört zu einer ganzen Kette von Stauseen, die sich von Ost nach West durch Nordalbanien ziehen. Mittlerweile sehen wir immer öfter das Blau des Wassers rechts von uns aufblitzen, Hoffnung keimt auf, dass es nicht mehr weit sein kann. Wir wissen nicht, was uns in Fierze unterkunftsmäßig erwartet, zur Vorsicht halten wir das herrlich gelegene Hotel „Alpin“, an dem wir gerade vorbeifahren, im Hinterkopf. Langsam bin selbst ich des Kurvengenusses überdrüssig – aber nichts, alles menschenleer. Schließlich passieren wir den Punkt, der auf dem Navi mit „Fierze“ gekennzeichnet ist, aber auch hier „Pustekuchen“. Wir sehen, wie sich die Straße vor uns noch kilometerweit am Berg entlangzieht. Im schlimmsten Fall werden wir uns bis Bajram Curri (gesprochen „Zurri“) durchkämpfen. Das bleibt uns aber zunächst erspart, in einer Ortschaft queren wir einen Fluss – und ich meine in der Ferne so etwas wie ein Schiff zu erspähen. Und tatsächlich: Dort liegt die Fähre „Alpin“, die uns morgen nach Koman bringen soll! Rendel checkt die Abfahrtszeiten, Vorbuchen überflüssig – und eine Unterkunft soll es im benachbarten Ort auch geben. Am Dorfplatz fragt Rendel danach, worauf ein junger Mann mit ihr fortstiefelt. Rendels erhobener Daumen signalisiert, dass die Unterkunft gesichert ist. Jedoch überzeugen mich ihre Schilderungen nicht, eher ein nicht so schönes Privatzimmer mit Klo auf dem Flur. Da es noch zeitig genug ist und es in Bajram Curri Hotels geben soll, mobilisieren wir die letzten Kräfte und machen uns auf die letzten Kilometer. Die Einfahrt kurz vor dem Ort durch einen mächtigen Tunnel von Alleebäumen macht Mut. Das von uns anvisierte Hotel existiert entweder nicht mehr oder wir finden es einfach nicht. So halten wir auf den Ortskern zu.
Bajram Curri (benannt nach einem Freiheitskämpfer, der sich im Kampf gegen die Jungtürken hervorgetan hat) liegt am Eingang des Valbona-Tals, das zu einer der Attraktionen der Gegend zählt. Zwar hatte ich nicht erwartet, hier auf einen mondänen Urlaubsort zu stoßen, aber dass das so ein Loch ist … Nirgendwo (nirgendwo!) sind uns in Albanien so fürchterliche Straßen begegnet wie hier mitten in der Stadt. Polizisten zeigen uns den Weg zum Hotel „Vllaznimi“ – von außen ganz nett, innen na ja. Aber immerhin ein Bett, die Aussicht, es morgen nicht weit zur Fähre zu haben – zudem hat das Hotel ein Restaurant, wir können sogar draußen sitzen. Vorher erkunden wir noch den Ort, kein wirklich lohnenswertes Unterfangen. Wohl 20 Cafés, aber nicht ein einziges Restaurant. Lediglich das Setting vor den hohen Alpengipfeln ist klasse.
Unsere Moppeds parken an der Straße, wie üblich lassen wir unsere Seitentaschen dran. Als uns einige Jugendliche entgegenkommen, augenscheinlich Roma, die uns belustigt anschauen, bin ich – ja: Vorurteil – zum ersten Mal überzeugt, dass morgen was fehlen wird. (Nein, es fehlte nichts …) Mein Fleischgericht bekomme ich kaum auf, Rendel ihren Fisch auch nicht. Sie hatte die Wahl zwischen „Forelle“ und der teureren „Valbona-Forelle“. Von letzterer bekam sie vier Stück (etwas kleiner) serviert, bekam sie aber nicht runter – entweder waren sie nicht frisch oder, wahrscheinlicher, das Fett alt. Beim Essen können wir beobachten, wie die Jugendlichen des Ortes, die sich ein Auto leisten können, dies ausführlich vorführen. Manchen sehe ich wohl zehn Mal die Straße auf und ab fahren. Was soll man in diesem Kaff auch anderes anstellen?
Hatte ich schon erwähnt, dass mehr als 50% der albanischen Autos Mercedes sind? (Die Albaner sprechen lieber von „Benz“.) Von alten „/8“ bis hin zu ganz neuen Karossen.
Etwas leid tut es mir, dass wir hier, direkt vor dem Valbona-Tal, dieses nicht noch anfahren, zumal wir uns auch die Tour ins gegenüberliegende Theth verkneifen – es ist bislang eh schon etwas viel.
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Von der Freude, langsam durch den Stau zu tuckern
Fierze–Koman-Stausee–Shkodra–Stari Bar (Montenegro)
Wenigstens ist das Frühstück gut und reichlich, dazu etliche dieser Macchiatos, die sie auch hier gut hinbekommen. Schnell gepackt, unterwegs noch ein paar Fotostopps, nach 20 Minuten sind wir an der Fähre, die schon fast voll ist und wie ein Partyschiff wirkt. Auf dem Oberdeck sind lose Gartenmöbel aufgestellt, alles besetzt, zumeist wohl Reisegruppen, oft aus Kosova. Pünktlich um 9 Uhr hebt sich die Auffahrrampe, aber nicht, bevor nicht ein Bediensteter einige Ölflecken, die ein Laster hinterlassen hat, sauber weggeputzt hat. Vieles in Albanien ist irgendwie improvisiert, aber – nach unserer Erfahrung – immer sehr sauber.
Es folgt, was wir im Vorfeld als einen der Höhepunkte unserer Reise erwartet haben, eine zweieinhalbstündige Fahrt durch die Schluchten des Koman-Stausees. Die Beschreibung schenke ich mir, geht eh nicht, und „atemberaubend“ (und so war es) ist zu abgegriffen.
Rendel kommt mit einer Gruppe älterer kosovarischer Herren ins Gespräch, die ihr eine ganze Pizzaschachtel mit leckerem Byrek (Börek) aufdrängen (für das wir später am Tag noch sehr dankbar sein werden). Mich spricht ein jüngerer Mann aus Prishtina (Kosova) an, befragt mich sehr sachkundig nach unseren Africa Twins.
Bei Koman endet unsere Fahrt, hier ist eine Staumauer mit Kraftwerk. Auf Bildern hatte ich schon gesehen, dass es nach dem engen Anlegepier unmittelbar in einen Tunnel geht. Der Anleger ist direkt am Berg, eine kleine Plattform, auf der sich Menschen, PKW und Kleinlaster drängen. Zudem ist der Tunnel nur einspurig, wir wollen runter, andere drängen von hinten, der Tunnel verstopft – ein unbeschreibliches Chaos. Blut und Wasser schwitzend schafft es auch Rendel von der Fähre, dann durch den unbeleuchteten und unasphaltierten Tunnel, hinter dem es sich schon wieder staut, denn dort schießt in einer meterdicken Fontäne Wasser aus dem Felsen, wohl ein Entlastungs-Überlauf, den alle fotografieren wollen.
Der Verkehr entzerrt sich nur langsam, denn die nächsten zig Kilometer sind zumeist Piste, zudem kurvig. Mal lassen wir ein Auto passieren, mal setzen wir uns vor eine Reihe von Autofahrern, die Angst um ihre SUV haben … Hätten wir uns nicht schon daran gewöhnt, so müssten wir alle 500 Meter anhalten, so schön ist die Gegend, dazu völlig menschenleer. Die Strecke zieht sich, wird aber langsam besser. Kurz vor dem Abzweig, an dem wir gestern auf dem Weg nach Pukë vorbeigefahren waren, kommen uns drei Africa Twin entgegen; in der Häufung liegt es nahe, dass da Forumskollegen drunter sind, aber wir grüßen uns nur im Vorbeifahren.
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Von wegen „schwarze Berge“!
Stari Bar (Montenegro)
Wir halten auf Shkodra zu. Auch hier gäbe es einiges zu entdecken, etwa am Skutari-See. Aber uns ist ja eh klar, dass es mindestens ein zweites Mal geben muss! Wir hätten zwei Möglichkeiten, nach Montenegro einzureisen: nördlich von Shkodra über Han i Hotit oder mehr westlich über Muriqan. Etwas Meer wäre schön, also die Westroute. Wir hoffen, in Ulcinj etwas am Meer zu finden. Nachdem wir die Einfallstraße nach Shkodra verlassen und die mächtige Festung rechts liegengelassen haben, lässt der Verkehr rasch nach, an der Grenze stauen sich die Fahrzeuge jedoch in mehreren Reihen. Nachdem uns einige Romafrauen mit fast hysterischem Schreien bedrängen, geben wir Gas und halten dann, um uns zu orientieren, wo wir uns einzureihen haben. Als wir meinen, unsere Reihe gefunden zu haben, winkt uns ein Beamter ganz nach vorne durch und lässt uns einscheren. Die Aus- und Einreise geht denkbar einfach, denn der albanische und der montenegrinische Beamte sitzen direkt hintereinander, ersterer reicht die Papiere direkt an seinen Kollegen weiter, schwupp, und wir sind durch.
Es schließt sich eine ausnehmend schöne Strecke durch Felder und zwischen Felsen hindurch an, kurz drauf sind wir in Ulcinj. Unserer Antipathie gegen spätnachmittägliche Städte gehorchend, orientieren wir uns Richtung Ada Bojana, dem kilometerlangen Strandabschnitt. Leider befinden sich am Strand keine Hotels, die meisten sind nahe der Straße. Doch nach Ulcinj rein? Die Altstadt soll ja schön sein. Wir entscheiden, uns noch eine Stunde zu geben und die Straße Richtung Bar weiterzufahren – irgendwas wird sich da schon finden. Wir passieren etliche touristisch anmutende Orte, können uns aber nicht entscheiden, in einen einzufahren. Schließlich löst sich die Straße von der Küste – und wir uns somit von unserem Hotel am Meer. Die Stunde ist fast rum, als ich rechts an einem Hügel etwas Festungsartiges entdecke. Vielleicht gibt es da ja etwas. (Für Montenegro hatte ich mich zwar etwas vorbereitet, aber keinen Reiseführer mit Hotelempfehlungen eingepackt.)
Der Ort heißt Stari Bar („Altes Bar“, im Unterschied zum „Bar“ an der Küste). In einem Restaurant erkundigt sich Rendel nach einer Übernachtungsmöglichkeit: Ja, 200 Meter weiter oben gibt es etwas. Nach ein paar Minuten kommt Rendel mit einer quirligen, gut Englisch sprechenden jungen Frau, die sich als Niki vorstellt, raus, den Daumen hoch. Niki managt die kleine Pension „Kula“. Wir sind von der Rückseite angefahren, die Vorderfront weist auf eine kleine Gasse direkt an der alten Stadtmauer. Wir sind begeistert, freuen uns, nicht zu früh aufgegeben zu haben. Niki will uns schon alle möglichen Tipps geben, aber wir müssen uns erstmal etwas ausruhen und rausfinden, wo wir hier überhaupt gelandet sind. Das alte Bar, das heute „Stari Bar“ heißt, hat eine lange Vergangenheit, die bis in die Zeit der Illyrer und Römer zurückreicht. Nach der Zerstörung durch ein schweres Erdbeben im Jahr 1979 wurde die Altstadt aufgegeben und die Stadt als (neues) „Bar“ an der Küste neu gegründet. Noch vor dem Essen machen wir uns zu einer Besichtigung auf, wobei sich unsere Begeisterung noch steigert, die Reste der Altstadt sind beeindruckend und wirklich sehenswert.
Wir lassen uns als Abendessen eine Fleischplatte mit Lamm und Kalb empfehlen, was sich als gute Wahl herausstellt, dazu das zurecht hoch gelobte montenegrinische Bier. Wir schildern Niki noch unsere morgigen Pläne, durchs Durmitor-Gebirge und am nächsten Tag durch die Tara-Schlucht zu fahren, woraufhin sie uns noch einige Tipps gibt. Um morgen früh loszukommen, zahlen wir schon – 35 Euro sind für das Zimmer, zudem in Montenegro, das als sehr teuer gilt, nicht zu viel.
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Ein Bier-See und steile Felsen
Stari Bar–Pivsko-See–Durmitor–Zabljak
Niki hat uns noch einen Übernachtungstipp gegeben, die Rafter-Unterkunft würde aber einen unnötigen Schlenker Richtung Grenze nach Bosnien-Herzegowina bedeuten. So oder so müssen wir uns erst in Richtung Podgorica halten, der Hauptstadt Montenegro – des, gemäß Eigendeklaration „ersten ökologischen Staates der Welt“. Wie das in der Praxis aussieht, erschloss sich uns in den paar Stunden unseres Aufenthalts nicht. Dass die vorgeblich schwarzen Berge „Monte Negros“ nicht schwarz sind, erweist sich nicht als Nachteil, ein Stück hinter Podgorica wird die Landschaft wieder herrlich grün und langsam kommen wir auch wieder höher. Auf das gute montenegrinische Bier hatte ich ja schon hingewiesen – trotzdem lassen wir Niksic, wo eine der bekanntestes Marken, das „Nik“, gebraut wird, links liegen. Doch das Ausweichmanöver hilft nicht lange, denn nach etwa 60 Kilometern landen wir am „Pivsko Jezero“ – dem „Biersee“ … Und spätestens an dieser Stelle wird es wirklich wieder interessant. Besonders diejenigen, die vielleicht in Kindertagen noch mit den Eltern in Jugoslawien Urlaub machen mussten, können sich vielleicht noch an die hiesigen Schönheiten erinnern, wir, die wir zum ersten Mal in der Gegend sind, sind überrascht. In Plužine, wo wir oberhalb des Sees tanken und die Aussicht genießen, fragen wir uns ernsthaft, ob der Tankwart für diesen Arbeitsplatz noch Geld mitbringen muss. Aber das soll noch nicht alles sein. Unmittelbar nachdem wir einen der Ausläufer des Sees überquert haben, verlassen wir die Hauptstraße und steigen gewissermaßen in den Berg ein. Ausführlich haben wir an anderer Stelle von unseren Befahrungen der „Taş Yolu“, dieser spektakulären Tunnelstraße entlang des Euphrat, berichtet. Rendel meint hier prompt: „Wie Taş Yolu – nur asphaltiert!“ Und genauso wirkt es: grob aus dem Fels gearbeitete Tunnel, enge Kehren, neben uns tiefe Schluchten. Genial! Kurz drauf ändert sich das Gelände gravierend: eine weite Hochebene, sanfte Hügel, aber markant unterbrochen durch Gebirgsgipfel. Wir befinden uns im Durmitor-Nationalpark; der Durmitor-Gebirgszug weist 48 Gipfel mit einer Höhe von über 2000 Metern auf, der höchste ist 2.522 Meter hoch. Wir begegnen etlichen Motorradfahrern, durchweg aus Polen, eine Gruppe umfasst von der BMW GS über Straßenmaschinen bis hin zur Goldwing fast das ganze Spektrum. Am imposantesten wirkt auf uns der „Sedlena Greda“ mit seinem charakteristischen Doppelgipfel und der „Prutaš“. Bei einem Fotostopp spricht uns eine Frau aus einer Reisegruppe an, fragt, wo wir herkommen. Die Gruppe, unterwegs in drei Kleinbussen, kommt aus Israel. Unfreiwillig reihen wir uns in den Konvoi ein, fühlen uns als „Eskorte“.
Die Gegend ist dünn besiedelt, aber nicht menschenleer, kleinere Gehöfte hier und da, Rinderherden, dazu immer mal wieder Camps für Trekker. Um die morgige Etappe gut schaffen zu können, wollen wir noch ein paar Kilometer fahren, wir haben Zabljak anvisiert, augenscheinlich ein Urlaubs- und bei Schnee Wintersportort. Die schöne Kulisse wird durch einige größere Hotelbauten gestört, wir quartieren uns im „Skihotel“ ein, ein etwas besserer Schuppen mit Spa, Hallenbad und einigem mehr, was wir nicht brauchen. Dafür liegt es ruhig, das Zimmer ist groß, hat ein Restaurant. Allerdings hält die Küche nicht, was die Karte verspricht, dazu kostet das Zimmer 60 Euro – eben ein Touri-Ort, den man sich nicht unbedingt merken muss. Mit Blick auf die morgige Etappe werfe ich mal einen genaueren Blick auf die Moppeds – Radlager und Ölstand prüfen, Kette fetten, Luft nachfüllen (ich habe ja einen Kompressor an Bord), aber sonst keine Auffälligkeiten.
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Noch mehr Schluchten – aber immer nur vom Feinsten
Zabljak–Tara-Schlucht–Rugova-Schlucht (Kosova)
Das Frühstück fällt sehr deftig aus, im Mittelpunkt eine ganze Platte mit verschiedenen luftgetrockneten Schinken, Salamis und ähnlichen Spezialitäten. So gestärkt, machen wir uns auf dem Weg. Wir hatten uns bewusst noch vor dem Einstieg in die Tara-Schlucht einquartiert, um diesen Abschnitt dann entspannt und bei Tag genießen zu können. Die Tara ist einer der beiden Quellflüsse der Drina, die dann ins Schwarze Meer mündet. Die Schlucht der Tara ist fast 80 Kilometer lang und bis zu 1.300 Meter tief, mithin eine der größten Schluchten der Welt. Wir stoßen 22 Kilometer nach Zabljak auf den Fluss, schauen von einer Brücke in die Tiefe. Parallel zur Brücke verläuft ein Stahlseil, an dem Wagemutige sich von einem Ufer zum anderen herübergleiten lassen können. Fast 70 Kilometer folgen wir der Tara, die erste Zeit meist nah am Ufer, später, nach Verlassen der Schlucht, mit mehr oder weniger Abstand.
Nach einiger Zeit fällt mir auf, dass wir zwar prinzipiell noch richtig sind, die vorgesehene Strecke über Bijelo Polje jedoch verlassen haben. Um nicht zurück zu müssen, nehmen wir den Vorschlag des Navis an – sieht zwar etwas langwieriger aus, dafür durch schöne Gegend. Fast schon zu schön, sowohl die Strecke als auch die Gegend. Wir halten an einem kleinen Gehöft, rechts wieder schneebedeckte Berge, vor dem Haus, auf der anderen Straßenseite, das kleine Häuschen, an dem nur noch das Herz in der Tür fehlt. Fast zwei Stunden kostet uns der „kleine Umweg“, der aber tatsächlich, wie es so schön heißt, „die Ortkenntnisse erhöht“, wir sind begeistert von diesem kleinen Land. Nach Berane geht es aber zügig weiter, Rožaje heißt der letzte Ort vor der kosovarischen Grenze. Von hier aus gibt es zwei Möglichkeiten, nach Kosova zu fahren: 20 Kilometer nordöstlich liegt ein Grenzübergang nach Serbien, dann durchfährt man wiederum 20 Kilometer serbisches Gebiet, und gelangt so nach Kosova. Wir wollen direkt auf Peć/Peja in Kosova zuhalten, müssen dazu in Rožaje südöstlich fahren. Wir verfahren uns, wobei uns ein LKW-Fahrer anbietet, uns vorweg zu fahren, aber er will eben die Serbien-Strecke nehmen, zudem müssen wir noch in den Ort zurück, um zu tanken. Ein Autofahrer klärt die Sache für uns, wir tanken und halten dann auf der richtigen Route auf die Grenze zu. „Eigentlich“ gibt es noch einen dritten Grenzübergang zwischen Montenegro und Kosova, den über den Čakor-Pass. Dieser Weg hätte uns direkt zu unserem Tagesziel, der Rugova-Schlucht geführt, aber leider ist dieser Übergang seit dem Krieg geschlossen, eine Öffnung wird in absehbarer Zeit erwartet.
Die Straße zum Grenzübergang zieht sich lang und in Kurven den Berg hoch, schließlich, irgendwo im Nirgendwo, der Schlagbaum. Der Grenzer erklärt uns, dass das nur der montenegrinische Ausreise-Kontrollpunkt sei, der kosovarische Posten käme erst in einigen Kilometern. Also nochmals ein nicht enden wollendes „Gekurbel“, jetzt bergab, dann der Übergang. Da die Grüne Versicherungskarte hier nicht gilt, schließen wir eine Zusatzversicherung ab und halten zunächst auf Peja zu, die kosovarische Form des uns vertrauteren Peć. Unseren Augen bietet sich nur ein komplett anderes Bild dar. Seit Tagen sind wir zumeist in engen Tälern gefahren, jetzt weitet sich vor unseren Augen eine bis zum Horizont reichende weite Ebene, die mich zu der Aussage verleitet: „Wo soll da denn noch eine Schlucht sein, tiefer runter geht’s doch nicht.“ Weit gefehlt.
Die Rugova-Schlucht war mir überhaupt kein Begriff, ich stieß darauf eher als auf eine Verlegenheitslösung, als ich noch eine paar interessante Punkte und Übernachtungsmöglichkeiten zwischen der Grenze und Prishtina suchte. Froh, aus Peja heraus zu sein, fahren wir wieder westlich und sehen eher zufällig den Hinweis, dass bald die Schlucht anfangen müsste. So einen „Hammer“ hatte ich dabei nicht erwartet.
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Verwunschene Berge, laute Untermieter – und ein mysteriöser Präsident
Rugova-Schlucht
Im Gegensatz zur Tara-Schlucht, wo der Fluss zumeist tief unter einem fließt, fahren wir hier meist nur knapp bis wenige Meter über dem Wasserspiegel. Teilweise ist die Schlucht extrem eng, manchmal fahren wir unter überhängenden Felsen durch, dann wieder durch Tunnel. Neben uns die reißende Bistrica, ein Nebenfluss des Weißen Drin. Wie um die spektakuläre Szenerie abzurunden, stürzen an vielen Stellen kleine Bäche in den Fluss. Bei einem Getränkeverkäufer stoppen wir und kommen dabei auch mit einem BMW 1100 GS-Treiber ins Gespräch. Der Kollege kommt gerade aus Kappadokien, kennt die hiesige Gegend aber auch sehr gut.
Für uns heißt es jetzt, eine schöne Unterkunft zu finden. Auf GoogleEarth war das Rugova-Camp verzeichnet, dessen Lage auf dem Navi aber wohl nicht genau stimmt. Das Motel „Hani“ macht einen netten Eindruck, Gebäude aus Holz, schöne Terrassen. Saisonbedingt sind wir die einzigen Übernachtungsgäste. Der freundliche Gärtner, der das Areal wässert, stellt sich als Inhaber heraus. Er spricht gut Englisch, so kommen wir gleich ins Gespräch.
Die Zimmer sind klein und recht dunkel, außerdem – das stellt sich erst später heraus – stinkt es vom Abfluss her, was aber, wenn die Bad-Tür zu bleibt, zu verkraften ist. Aber uns zieht es sowieso raus, allein der Blick von der Restaurantterrasse ist ein Knüller. Wann immer wir auf den vermeintlichen Gärtner treffen, sind wir gleich in intensivem Gespräch. Er betreibt das Hotel, zudem, zusammen mit seinen Brüdern, ein Bauunternehmen, das auf Holzhäuser spezialisiert ist und sogar schon Objekte in Deutschland realisiert hat (angeblich zu einem Drittel des Preises). Er erzählt von der Notwendigkeit, die Eigenschaften der vielen verschiedenen Holzsorten genau zu kennen, um zu wissen, was wo eingesetzt werden kann.
Unser Gegenüber, den Vornamen habe ich leider nicht erfragt, gehört zur Sippe der Niqci, so auch sein Familienname. Er hat Englisch und Kriminalistik studiert, bevor er ins Hotel- und Baufach wechselte. Er kann mir viele meiner Fragen zu „Blutslinien“, dem Kanun und zur Gegend beantworten. Das Hotel gehört zur Gemeinde Shtupeq i Madh, der Teil der Dinarischen Alpen, wo wir hier sind, nennt sich auf serbisch „Prokletije“, „Verwunschene Berge“, albanisch „Bjeshkët e Namuna“.
Während wir langsam von Tag zu Traum hinübergleiten, schreckt uns ein lautes Geräusch hoch. Über uns ist ein kräftiges Trippeln zu hören, dann ein Schleifen, als ob jemand etwas hinter sich her zieht, gefolgt von einem Rutschgeräusch. Ich erinnere mich an ein Video, dass Dohlen zeigte, die einen Riesenspaß dabei hatten, eine Dachschräge runterzurodeln. Aber das da oben, das muss etwas Großes sein! Was sag ich: etwas ganz Großes! Im Treppenaufgang hängt ein Dachsfell … Wir versichern uns, dass alle Fenster geschlossen sind, werden in der Folge aber noch etliche Male wach.
Wir haben uns zu einer zweiten Nacht entschlossen, also keine Eile. Unausgeschlafen, aber früh schleiche ich mich aus dem Zimmer, in der Erwartung, ein besonderes Phänomen erleben zu können, von dem unser Gastgeber berichtet hatte: Morgens, so gegen fünf Uhr, sollen die umgebenden Bäume für kurze Zeit einen betörenden Duft verströmen. Die Luft ist zwar herrlich, aber die Morgensonne wird das jetzt, um kurz vor sieben, wohl schon verdunstet haben. Der Bursche, der den Nachtportier gibt, ist schon wach, ich kann ihn überzeugen, mir schon vor dem Frühstück einen leckeren Macchiato zu zaubern. Hier möchte ich nicht wieder weg!
Später spricht uns unser Gastgeber von sich aus an, ob wir eine ruhige Nacht gehabt hätten. Er weiß von dem Mitbewohner, das sei ein „Squirrel“. – „Squirrel, squirrel?“ Ah, jetzt dämmert es mir: ein Eichhörnchen. Und das macht so einen Lärm? Aber mit so einem putzigen Untermieter können wir uns abfinden. Und der Hotelier ist eh der vernünftigen Ansicht, dass wir hier in der Natur leben und uns eben anpassen müssen – statt die angestammten Bewohner zu verjagen.
Frühstück gibt’s erst ab neun, wir lassen es langsam angehen. Während wir unsere Spiegeleier mampfen, tut sich unten auf der Terrasse etwas. Etliche Autos sind vorgefahren und die Leute scheinen jemanden zu erwarten. Schließlich erscheint ein drahtiger Mittvierziger, den alle begrüßen. Als mir der Kellner den dritten Macchiato serviert, raunt er mir „President!“ ins Ohr. Präsident – wovon? Der aktuelle Präsident und der Premier sind mir zumindest soweit geläufig, dass ich weiß, dass es keiner von beiden sein kann. Na ja, vielleicht eine Provinzgröße, die so bezeichnet wird. Als Rendel aufs Zimmer gehen will, läuft ihr jener „Mr. President“ über den Weg und spricht sie an – was ich nicht zulassen kann, hier gilt schließlich der Kanun … Aber nein, freundlich erkundigt er sich nach unserer Herkunft, wie es uns gefällt etc. Zur Vorsicht – kann ja doch jemand Wichtiges sein – stellen wir uns zum Erinnerungsfoto auf, wobei ich ihm zuflüstere: „And – you are the president of Kosova?“, worauf er etwas ausweichend antwortet, aber bejaht. Keinen Deut schlauer, verabschieden wir uns, denn der sportliche Herr will mit seiner Entourage eine Wanderung machen.
Wer es dann wirklich war, das ist weiter unten zu lesen, beim Besuch unserer Freunde in Prishtina. (Unser Gastgeber war gerade nicht da, weswegen ich ihn nicht fragen konnte.)
Rendels Lust aufs Motorradfahren hält sich heute in Grenzen, aber zu verlockend ist die Aussicht – im Wortsinn – auf das, was einige Kilometer weiter westlich auf uns warten könnte. Wir halten also wieder, wenn auch auf anderer Straße als gestern, auf die montenegrinische Grenze zu, dorthin, wo der gesperrte und verbotene Grenzübergang liegt (vor dessen illegalem Überschreiten wir auch nochmal ausdrücklich gewarnt werden). Schnell weitet sich die Schlucht und wir passieren eine Abfüllfabrik für Mineralwasser und auch das Rugova-Camp, das wir gestern verfehlt hatten (größer als unser Hotel, wohl vor allem für Trekker gedacht). Wiederum über enge Sträßchen winden wir uns den Weg nach Gur i Kuq hoch, „Roter Stein“. Am Ende landen wir an einem kleinen Restaurant, von wo aus man, darauf hatte uns schon gestern der Getränkeverkäufer hingewiesen, eine phänomenale Aussicht habe. Nicht übertrieben, wir können uns kaum sattsehen. Satt essen könnte man sich hingegen schon. Wir stellen uns zwei österreichischen KFOR-Soldaten vor und kommen ins Gespräch. Einer von den beiden hat sich eine riesige Fleischplatte mit Gegrilltem servieren lassen. Rendel begnügt sich mit einer heißen Schokolade, mir braut ein etwas wunderlicher Mann in Unterhemd auf offenem Feuer etwas, das wohl ein Mokka sein soll. Falls ich bis jetzt noch nicht wach gewesen sein sollte …
Die beiden KFORler sind in hochwichtiger Mission hier – sie wollen den Maibaum bezahlen, den ihnen der Wirt zum Zweck der Brauchtumspflege in ihrem Camp besorgt hatte. Sie geben dann auch freimütig zu, dass ihre Aufgabe eigentlich nur noch darin besteht, Präsenz zu zeigen, da sich doch immer mehr staatliche Institutionen festigen. Das Lokal scheint ein beliebter Treffpunkt für Sicherheitskräfte zu sein, ein Trupp kosovarischer Polizisten, die hier wohl ihre Dienstbesprechung abhalten, helfen uns noch bei der Streckenplanung für unsere nächste Etappe; noch vor Ort rufen wir unseren Freund Halil an, um unseren Treffpunkt eindeutig zu beschreiben.
Auf dem Hinweg hatten wir einen Radfahrer überholt, bei dem Rendel meinte, dass er uns auf Deutsch zugerufen hätte: „Ich will nach ganz oben!“ Bestimmt verhört. Zwischenzeitig ist er angekommen, und wir kommen ins Gespräch. Da er zeitweise in Freiburg gelebt hat, spricht er gut deutsch. An dem Mittvierziger ist kein Gramm Fett zu sehen. Im Gespräch erzählt er uns, wie es in den Kriegstagen hier ausgesehen hat, wo Geschütze standen – und dass die Minengefahr nicht mehr hoch sei, er würde sich bei seinen Streifzügen durch die Berge mehr vor Bären fürchten. Und dann gibt er noch eine Anekdote zum Besten: Vor vielen Jahren war er mal hier oben beschäftigt, mitten im Winter, alles bis ins Tal tief verschneit. Der Auftraggeber hatte versäumt, den Arbeitern einen Vorrat an Lebensmitteln anzulegen. Daraufhin schnallte sich unser neuer Bekannter die Ski unter und machte sich auf, ins 25 Kilometer entfernte Peja zu gelangen. Als er dort ankam, stopfte er sich im ersten Laden mit Schokolade voll, weil er völlig erschöpft war. Ein geländegängiges Fahrzeug brachte dann Lebensmittel nach Gur i Kuq.
Gur i Kuq wäre auch so ein Ort, wo man einen Roman schreiben könnte. Der Name bedeutet „Roter Stein“, wobei auch die Bezeichnung „gelber“ oder „grüner Stein“ geläufig ist – sie alle beziehen sich auf den Gipfel eines der höchsten Berge der Gegend (2.522 Meter), den man von hier sehen kann.
Wir verabschieden uns von unseren neuen Bekannten und fahren zurück, wobei Rendel mir bekennt, dass sie das Motorradfahren zumindest am heutigen Tag verflucht habe. Kein Problem, das gehört dazu, heißt aber auch, dass ich die geplante Fahrt durch die Schlucht mit Onboard-Kamera doch alleine bewerkstelligen muss. So starte ich auch gleich durch, fahre zwei Mal hin und zurück (um dann feststellen zu müssen, dass sich die Kamera, als ich sie auf dem Helm montiert hatte, selbständig abgeschaltet hat …).
Als ich zurückkomme, ist Rendel – mal wieder – mit anderen Männern im Gespräch. Sie diskutieren, ob eine sich am Horizont abzeichnende Felsformation natürlichen Ursprungs ist oder von Menschenhand. Einer der drei ist auf der Suche nach Pyramiden auf dem Balkan, wie es sie z. B. in Bosnien-Herzegowina geben soll, ähnliche Gebilde meint er, auf GoogleEarth im Bereich dieses Felsens ausgemacht zu haben. Vermutlich etwas esoterisch. Bevor sie sich verabschieden, weisen sie uns noch auf die, uns bekannte Bestimmung des Kanun hin, dass, nach Gott, der Gast an erster Stelle steht – mit der praktischen Umsetzung, dass sie bezahlen. Zum Abschied bringen wir uns noch zu einem Foto in Stellung, wobei wir alle das Handzeichen des albanischen Adlers machen.
Nachdem ich schon in Benjë in der Thermalquelle war, habe ich mir vorgenommen, auch das Wasser der Bistrica zu testen. Wir laufen ein paar Meter, bis wir eine seichte Einstiegsstelle mit wenig Strömung gefunden haben. Das letztjährige Bad unter der Cendere-Brücke östlich von Adıyaman in der Türkei hatte ich ja auch überlebt. Doch das hier ist doch noch eine andere Nummer, ich schätze 8 bis 10°C. Ich mache kehrt, aber mit den Füßen war ich drin!
Heute können wir draußen essen, noch einmal lassen wir die Abendstimmung auf uns wirken. Morgen wollen wir unsere Freunde treffen, verabredet sind wir an den Mirusha-Wasserfällen. So gern wir noch geblieben wären, so viel es noch zu entdecken gäbe – etwa in den umgebenden Wäldern und den kleinen Dörfern: Wir müssen uns dran erinnern, dass wir uns bei dieser Reise erst einen Überblick verschaffen wollten, und trösten uns damit, dass es, falls wir an unsere Türkei-Tradition anknüpfen, nicht das letzte Mal sein wird.
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Mit alten Freunden durch ein neues Land
Rugova-Schlucht–Mirusha–Prizren–Prishtina
Halil und Metije sind während des Kosova-Kriegs als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen und uns zu guten Freunden geworden. Rendel war direkt nach dem Krieg zwei Mal in Kosova, um Aufbauhilfe zu leisten, sie ist natürlich gespannt, was sich seitdem dort getan hat. Halil und Metije sind dann in die Heimat zurück, ihre Tochter lebt mittlerweile mit ihrer Familie in Schweden, Valon, ihren jüngeren Sohn, sollen wir heute wiedersehen, zusammen mit seiner Verlobten. Rendel hat sie nämlich für den Abend zum Essen eingeladen, denn sie hat heute Geburtstag, wie fast immer in den letzten 30 Jahren im Urlaub.
Wir queren noch einmal Peja, was, mangels Ampeln, zum Geduldsspiel wird. Dank der Wegbeschreibung der Polizisten finden wir unseren Treffpunkt gleich, eine halbe Stunde früher als angekündigt. Aber Halil und Metije sitzen schon in dem Restaurant und erwarten uns. Großes Hallo, obwohl wir uns zwischenzeitig schon etliche Male in Deutschland gesehen haben.
Wer einmal wirkliche Gastfreundschaft erleben will – also so richtig –, der sollte sich von Albanern (bzw. Kosovaren) in ihrem Land einladen lassen. Es gibt ja manchen verqueren Ehrbegriff, etwa in der Türkei, aber das Wohlergehen des Gastes scheint hier eine ganz besondere „Frage der Ehre“ zu sein. Es betrifft nicht nur gutes Essen etc., sondern ist eine umfassende Fürsorge für Wohlergehen und Sicherheit des Gastes. Verschiedenste Aspekte werden wir heute und morgen noch kennenlernen. Zunächst kommt es für Metije überhaupt nicht infrage, dass sich Rendel auf der Toilette umzieht. Sie erbittet sich an der Rezeption einen Zimmerschlüssel, damit sie das sauber und ungestört auf einem Hotelzimmer machen kann.
Zu den Mirusha-Wasserfällen könnten wir wandern, Halil zieht eine Anfahrt mit dem Auto vor. In meinen Augen keine so gute Idee, denn der steinige Weg ist nur im Schritttempo zu befahren und zieht sich. Auch hier steht am Eingang ein gepanzertes KFOR-Fahrzeug.
Die Wasserfälle sind ein beliebtes Ausflugsziel, auch für Schulklassen, wobei die Fälle an sich eher eine Enttäuschung sind, zumindest das Stück, das sich als zugänglich erweist. Die wesentlichen Abschnitte sind noch nicht mit Wegen erschlossen, was Halil bemängelt. Überhaupt hören wir in diesen Tagen öfter die Klage, dass vor allem das Tourismusministerium das Potenzial des Landes zu wenig nutzt.
Wir sind ja noch auf den Motorrädern, gingen davon aus, zunächst nach Prishtina zu fahren, aber Halil und Metije haben andere Pläne. Um keine Zeit zu verlieren, wollen sie uns heute noch die Stadt Prizren zeigen, auch so ein Ortsname, den man oft in den Medien gehört hat, mit dem man aber kaum etwas verbinden kann. Ehrlich gesagt hört es sich für mich eher öde an, okay, lassen wir uns überraschen. Auf dem Weg mache ich Halil Zeichen anzuhalten – war da nicht eine schöne, alte Brücke? Tatsächlich – zehn schöne Bögen, super erhalten, die Terzijski-Brücke über den Erenik bei Đakovica.
Um zu dieser Uhrzeit in Prizren einzufahren, sollte man sich wirklich auskennen. Halil sucht uns beiden einen Parkplatz, dann stiefeln wir los. Ich wollte mich ja überraschen lassen – und werde überrascht. Zwar beschränken wir uns auf den Altstadtbereich dieser 180.000-Einwohner-Stadt an der Bistrica, der wir ja schon in der Rugova-Schlucht begegnet waren, aber der ist schon mal ausnehmend schön. Unmengen von Volk unterwegs, alles macht einen recht heiteren Eindruck, traditionelle Straßenmusikanten sorgen zusätzlich für Atmosphäre. Die Stadt hat etwas orientalisches Flair, wiewohl auch der christliche Einfluss unverkennbar ist.
Wir setzen uns in ein Straßencafé, Metije schlägt vor, dass wir mal „Boza“ probieren, ein Erfrischungsgetränk, das in dieser Gegend besonders schmackhaft sein soll. Ich erinnere mich an Şalgam, ein türkisches Getränk aus vergorenem Steckrübensaft … (gar nicht soo übel, wie es sich anhört). Boza muss aber was anderes sein – komm, egal, woran ich sterbe! Farblich und von der Konsistenz erinnert mich das Zeug an meine Eiweiß-Shakes, von denen ich mich zu Hause in den letzten Wochen hauptsächlich ernährt habe. Boza ist von der Grundnote her eher süßlich, wenn auch mit leicht säuerlichem Einschlag. Das Zeug ist wohl auf dem ganzen Balkan bekannt, zählt streng genommen zu den Bieren und wird auf Hirsebasis hergestellt, dabei ergibt sich ein geringer Alkoholgehalt von 0,5 bis 1%. Sehr lecker und erfrischend, nicht nur aus Höflichkeit bestelle ich noch ein Glas.
Als es ans Zahlen geht, verweist der Ober an zwei Männer einige Tische weiter – sie hätten uns eingeladen. Ja, ja – der Kanun. Es stellt sich heraus, dass wir den beiden schon in der Rugova-Schlucht begegnet waren – aus dem Autofenster heraus haben sie sich kurz auf Französisch mit uns unterhalten. Es sind Kosovaren aus der Schweiz auf Heimaturlaub.
Auf dem Weg nach Prishtina möchte uns Halil noch ein wenig von der Gegend zeigen, weswegen wir nicht über die Autobahn fahren sollen, sondern zunächst östlich durch die Berge im kosovarisch-mazedonischen Grenzgebiet. Wir sind müde und entsprechend skeptisch, wollen uns das aber auch nicht entgehen lassen. Auf der schmalen Straße stadtauswärts staut sich der Verkehr, Chaos, kein Durchkommen – vorne hat sich ein Unfall ereignet. Wir vereinbaren, uns mit den Motorrädern durchzumogeln und später auf einer Passhöhe zu warten. Beim Durchschlängeln touchiere ich einen Kleintransporter, was niemanden interessiert. Endlich wieder Gas geben – hinter uns lange nix, denn die stehen noch geraume Zeit im Stau. Halils Tipp war gut, wieder geht es rauf in die Berge, Kurven ohne Ende. Wir tanken, kurz darauf erscheinen Halils Scheinwerfer im Rückspiegel. Klischee, aber die Gegend bekommt, je höher wir klettern, etwas von Schweiz.
Leider hat die schöne Strecke bald ein Ende, das Stück über Ferizaj zieht sich endlos, LKW, Schlaglöcher, ein Gewerbegebiet nach dem andern, zudem fängt es an zu nieseln. Schließlich erreichen wir Prishtina, aber unsere Reise scheint noch nicht zu Ende. Von der Autobahn runter, rauf auf die nächste. Ich will nicht mehr! Schließlich fahren wir auf den Parkplatz des etwas außerhalb, aber direkt an der Autobahn gelegenen Hotels „Amazona“. Ziemlich genervt fahre ich Halil an, der daraufhin etwas geknickt ist. Er hat einfach übersehen, dass Motorradfahren, zumal in einem fremden Land, einen anders fordert. Aber wir beruhigen ihn, und ich nehme mir vor, wieder auf „positiv“ zu schalten – schließlich hat er es nur gut gemeint, und wir wollen ja auch Geburtstag feiern!
Die Motorräder kann ich in eine Art Tiefgarage stellen, wobei ich mich auf einer öligen Fläche fast noch auf die Fresse lege. Dann aber schnell abgerödelt, etwas ausgepackt, geduscht – dann ab ins Restaurant. Halil bedauert, dass wir uns heute nicht raussetzen könne, denn, das sehen wir beim Frühstück, das Hotel hat einen sehr schönen Garten. Dann stoßen auch Valon und seine Verlobte Daorsa dazu. Valon ist zu dem herangewachsen, was man als „feinen jungen Mann“ bezeichnen könnte. Nach seinem Studium arbeitet er jetzt in einer Bank in Mitrovica. Seine Zukünftige hat Wirtschaft studiert, dann aber umgesattelt, jetzt bildet sie angehende Maskenbildner aus.
Halils Fürsorge bestand u. a. darin, dass er viele Hotels in Prishtina abgeklappert hatte, um etwas uns „Angemessenes“ zu finden, zudem hat er, wie wir später sehen sollten, einen Super-Preis ausgehandelt. Das Essen ist gut und reichlich, wir haben viel Spaß miteinander. Ich zeige Halil mein Foto des „Präsidenten“ – sagt ihm nichts, und das will bei Halil etwas heißen, denn er kennt so ziemlich jeden in Kosova – bis hin zur Regierung.
Wir müssen ins Bett, aber Metije bittet noch um einen Moment Geduld. Ein Kellner bringt dann eine Schokoladentorte mit Feuerfontäne herein – unter viel Applaus schneidet Rendel sie an und verteilt sie. (Vorher hat sich noch Valons Verlobte – eine junge Frau mit Superfigur – bei mir nach meinem Abnehmgeheimnis erkundigt. Und sofort „Yokebe“ gegoogelt …)
Halil hat tatsächlich ein sehr gutes Zimmer reservieren lassen, fast schon Luxus. Der Autobahnlärm lässt bald nach, und so schlafen wir auch bei offenem Fenster gut.
(Für die Statistiker: Das Abendessen für uns sechs hat mit Getränken 73 Euro gekostet; für das Zimmer hat Halil den Sonderpreis von 40 Euro rausgehandelt – bei Barzahlung.)
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Hoffnung für ein geschundenes Land
Prishtina–Rashan–Mitrovica
Beim Frühstück, das nach unseren Wünschen „konfiguriert“ wird, können wir doch noch den Garten genießen. Wie verabredet wartet Halil dann schon in der Lobby – wir wollen uns Prishtina, die Hauptstadt, anschauen. Halil steuert die Rückseite eines Gebäudekomplexes an und parkt etliche andere Autos zu. Den Autoschlüssel drückt er jemandem, den er augenscheinlich kennt, in die Hand. Im Bedarfsfall würde er den Wagen dann wegsetzen.
„Halil“ und „jemanden, den er kennt“ … Halil kennt praktisch jeden. Seine Frau meint, dass es für die üblichen 10 Minuten durch die Fußgängerzone eher zwei Stunden braucht. Aber kein Wunder, er ist ein bekannter Gewerkschafter, war Direktor des größten Bergwerks des Landes und ist politisch und mit humanitären Aufgaben ständig unterwegs.
Prishtina kann nicht mit vielen „schönen“ Sehenswürdigkeiten punkten, im Blick auf die jüngste Geschichte ist die Stadt aber sicher interessant. Wir schauen uns das Regierungs- und das Parlamentsgebäude an, das große Denkmal für Ibrahim Rugova, dem leider viel zu früh verstorbenen, von vielen verehrten „Mann mit dem Schal“, der von 2002 bis zu seinem Tod 2006 Präsident von Kosova war – Philosoph, Pazifist und Gründer der Partei LDK. Nicht weit davon wieder ein weiteres Denkmal, eines für die größte albanische Tochter, Anjezë Gonxha Bojaxhiu, besser bekannt als Mutter Teresa. Trotz wirtschaftlicher Dauerkrise vermittelt so ein Gang durch die Innenstadt doch so etwas wie eine optimistische Grundstimmung. Heute sind überall Zelte aufgestellt, in denen Grundschüler Vorlesewettbewerbe abhalten oder auf ihren Instrumenten vorspielen. Neben vielen anderen Leuten macht uns Halil mit einer Frau bekannt, Kosovas führender Frauenrechtlerin. Die Seitenstraßen haben eher etwas Morbides – vieles ist verfallen oder vergammelt, wirkt arm und improvisiert. Am schönen sechseckigen Uhrturm aus dem 19. Jahrhundert vorbei gehen wir in Richtung Museum. Der Haupteingang ist verschlossen, wir versuchen es hinten rum. Da steht tatsächlich eine Tür offen, im Flur etliche Exponate, die man so mitnehmen könnte. (Die beiden verrosteten Waschmaschinen gehören wohl eher nicht dazu.) Eine Museumsmitarbeiterin erklärt uns schließlich, dass das Haus derzeit wegen Renovierung geschlossen ist.
Bevor wie Metije auflesen und nach Rashan fahren, holen wir das Auto ab und fahren zu einer der neueren Sehenswürdigkeiten der Stadt – zur Mutter-Teresa-Kathedrale, die auf Initiative von besagtem Ibrahim Rugova gebaut wurde. Grundsteinlegung war 2005, Weihe im Jahr 2010, ganz abgeschlossen sind die Arbeiten immer noch nicht. Zur Kathedrale gehört ein Glockenturm, der per Fahrstuhl erklommen werden kann. Der Wärter empfiehlt, noch ein paar Minuten zu warten, denn gleich setzt das 12-Uhr-Läuten ein … Von oben hat man eine großartige Sicht auf Stadt und Umland, auffälligstes Bauwerk ist die futuristische und überdimensioniert anmutende Nationalbibliothek.
Metije wartet schon, hatte gehofft, dass wir noch auf ein Stück Kuchen mit raufkommen, wir wollen aber gleich weiter, machen noch einen kurzen Abstecher an Ibrahim Rugovas Grab, ein zwar exponierter Platz, gleichwohl eher bescheiden.
Auf dem Weg nach Rashan, dort sind Halil und Metije geboren, machen wir an einer weiteren Gedenkstätte auf freiem Feld Rast, dort ist ein von deutschen Soldaten bestückter Horchposten Richtung Serbien installiert – die Jungs freuen sich über etwas Abwechslung.
Rashan liegt etwas östlich von Mitrovica in einer ländlichen Gegend. Von einem kleinen Restaurant aus zeigt uns Metije ihr Elternhaus. Rendel kennt die Gegend noch aus der Zeit, wo hier praktisch jedes Haus zerstört war. Halil weist auf das Dorf unter uns, meint, dass mindestens 70 bis 80% der Häuser nur mit deutscher Hilfe wiedererrichtet worden sind, einer der Gründe, warum Deutsche in Kosova gut gelitten sind. Trotz des Wiederaufbaus leiden die ländlichen Gegenden unter der Stadtflucht. Halil erzählt von einem Deutschen, der sich hier angesiedelt hat – eine Ausnahme, denn der nächste Laden oder Arzt sind weit.
Wir schauen noch kurz in Vushtrri vorbei, um ein Unikum zu besichtigen, die „Brücke ohne Fluss“. Die erst fünf-, später neunbogige Brücke ist die älteste Steinbrücke Kosovas. Seit der Fluss Sitnica im Jahr 1855 seine Richtung geändert hat, ist das Flussbett trocken und mittlerweile verlandet.
Vor und kurz nach ihrer Zeit als Flüchtlinge in Deutschland haben Halil und Metije in Mitrovica gelebt, eine Art „Frontstadt“ mitten auf kosovarischem Gebiet. Der Fluss Ibar bildet die Grenze zwischen dem serbisch dominierten Norden und dem kosovo-albanischen Teil der Stadt. Die Straße über den Fluss kann zu Fuß begangen werden, Fahrzeuge werden durch Betonklötze ausgesperrt. Rendel erinnert sich, dass hier seinerzeit Panzer aufgefahren waren, heute reicht ein KFOR-Posten. Wir gehen kurz auf die serbische Seite, sehen Autos ohne Kennzeichen. Halil erklärt uns, dass der serbische Teil einer Stadt ohne Gesetz gleicht. Auch, wenn sich die Situation entspannt hat, hat es doch etwas Bedrückendes.
Wir holen Valon von der Arbeit ab und fahren in ein schönes Fischrestaurant, das „Ibri“, etwas außerhalb von Mitrovica am Ibar gelegen. Metijes Schwester hat ein köstliches Spinat-Börek gemacht und uns mitgegeben. In Kosova ist es nicht ungewöhnlich, selbst mitgebrachte Speisen im Restaurant zu essen, das Börek ist eine leckere Beilage zu unseren Forellen. Ich zeige Valon nochmal das Foto des „Präsidenten“: „Hey, das ist doch Ramush!“ Halil ist irritiert. „Ramush, den kenne ich doch gut. Ich brauche eine Brille!“ (Ich hatte ihm das Bild nur auf dem Kameramonitor gezeigt.) Also doch ein echter Präsident, besser: ein ehemaliger Premierminister Kosovas, Ramush Haradinaj, unter Ibrahim Rugova 100 Tage Premier. Halil meint, dass die Kombination Haradinaj/Rugova die beste Regierung gewesen sei, die Kosova bislang hatte. Er greift zum Telefon, zeigt mir, dass er dessen Nummer gespeichert hat, und ruft ihn prompt an. Haradinaj versichert ihm, dass wir einen guten Eindruck hinterlassen hätten, lädt uns für das nächste Mal zum Kaffee ein.
(Später recherchiere ich ein wenig und bin mir nicht mehr so ganz sicher, ob das der Mann ist, mit dem man sich unbedingt sehen lassen sollte – das Spektrum der Bewertung reicht eben von „bester Mann“ bis hin zu „ganz schlimmer Finger“. Auf Rugovas Anraten hin hatte er sich dem UN-Kriegsverbrechertribunal gestellt, es kam zum Prozess, in dem er – mangels Beweisen – freigesprochen wurde. Ihm werden Kontakte zur Organisierten Kriminalität nachgesagt, andererseits scheint er sich echt verdient gemacht zu haben. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass man diese Ambivalenz in diesen Ländern mit ihrer besonderen Vergangenheit aushalten muss. Wen es interessiert: Der entsprechende Wikipedia-Eintrag ist recht aufschlussreich.)
Es war ein langer Tag, eine Sache steht aber noch zwingend an, ein Besuch bei Metijes Schwester und Familie in Mitrovica (der Börek-Bäckerin). Unser Besuch hat einen eher tragischen Hintergrund. Die jüngere Tochter der Familie war schwerst erkrankt, eine Behandlung in Kosova nicht möglich. Auf Rendels Initiative hin konnte die kleine Albesa nach Deutschland geholt werden, „Ein Herz für Kinder“ brachte das Geld zur Behandlung auf. Leider vergebens, Albesa hat den Kampf verloren. Auch Jahre später bestimmt dieses Ereignis noch unseren Besuch, der, trotz allem, von großer Dankbarkeit im Blick auf das Versuchte, wenn auch Vergebliche, geprägt ist. Aber wir lachen auch viel, ich, der ich damit nicht so befasst war, habe zu den Namen und Schicksalen jetzt auch Gesichter.
Letztlich verabschieden wir uns, auch von Halil, Metije und Valon, die uns noch zum Hotel zurückgebracht haben. Zwei intensive, nicht unbedingt typische Urlaubstage, die wir aber nicht missen wollen. Wir packen noch und bereiten uns auf die morgige Weiterfahrt vor, die uns wieder nach Mazedonien bringen soll.
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Nur eine Stippvisite – nächstes Mal mehr: Mazedonien
Prishtina–Stobi–Dojran-See
Wir lassen uns das gute Frühstück noch einmal munden, der Himmel ist fast wolkenlos – optimale Fahrbedingungen. Die quälende Strecke von vorgestern Abend müssen wir jetzt in Gegenrichtung, ausgeruht, bei Sonne und zu anderer Tageszeit sieht das aber schon ganz anders aus. Kurz vor der mazedonischen Grenze tanken wir noch, dann reihen wir uns in eine der vielen Schlangen vor dem Grenzübergang ein. Keiner scheint zu wissen, wo er sich einreihen soll, scheint aber auch keine Rolle zu spielen. Ein PKW neben uns will sich vor uns einordnen, was wir großzügig gestatten – und was uns einen Rüffel der hinter uns Stehenden einbringt: „Das können Sie doch nicht machen, der muss warten wie wir!“ Bevor wir uns rechtfertigen können, greift ein Zöllner ein und verweist den Übeltäter ans Ende der Schlange.
Wir fahren an Skopje vorbei auf die Autobahn. Uns wird klar, dass die Strecke bis ans Ende des griechischen Pilion, wo wir die letzten Tage verbringen wollen, heute nicht zu schaffen ist. Also nehmen wir ein wenig Druck raus und genießen die Fahrt. Wenn schon Autobahn, dann hier! Die Strecke führt zum Teil durchs Gebirge, zeitweise müssen Hin- und Gegenrichtung geteilt und um die Berge herumgeführt werden, hin und wieder blitzt der Vardar, der Fluss, der Mazedonien von Nordwest nach Südost teilt, auf. Eigentlich hatten wir diese Strecke schon für den Hinweg erwogen, weswegen ich auch eine Sehenswürdigkeit auf dem Schirm habe – Stobi, die bedeutendste Ausgrabungsstätte Mazedoniens. Ein Sakrileg, daran vorbeizufahren, zumal sie direkt an der Autobahn liegt.
Stobi bzw. seine Vorläufer ist schon seit der Jungsteinzeit besiedelt, 350 v. Chr. gliederte Philipp II., Vater Alexander des Großen, die Gegend in sein Reich ein, 148 v. Chr. wurde Makedonien römische Provinz. Nach einem kurzen ostgotischen Intermezzo wurde Stobi im Jahr 518 durch ein Erdbeben zerstört, aufgegeben und nicht wieder neu besiedelt.
Das Gelände ist weitläufiger als wir erwartet haben, schnell bereuen wir, uns nicht unserer Motorradklamotten entledigt zu haben. Unser Blick fällt zunächst auf ein ganz frisches Ausgrabungsareal, auf dem etliche Leute beschäftigt sind. Als wir uns nähern, kommt einer auf uns zu, augenscheinlich der Ausgrabungsleiter. Er erklärt uns, dass es sich bei dem Areal um die Isis-Tempelanlage handelt, die erst kürzlich entdeckt wurde. Zudem bittet er uns, keine Fotos zu machen, da die Funde noch nicht veröffentlicht sind. Dem würde ich gerne nachkommen, doch: zu spät …
Zu den bereits ausgegrabenen Stätten zählen das Theater (eher klein), Wohnhäuser, Kapellen, ein Bad und – recht groß und imposant – eine Basilika. Ein wirklicher Knüller ist jedoch das danebengelegene Baptisterium mit wunderschönen, kreisförmig angeordneten Mosaiken. Diese sind zudem sehr gut erhalten und wurden nicht, wie manchmal üblich, in ein Museum überführt. Der Abstecher hat für uns, die wir geschichtlich und archäologisch interessiert sind, wirklich gelohnt.
Weiter auf der Hauptstraße, geht es jetzt fast ständig direkt am Vardar entlang, rechts und links Weinberge ohne Ende. Ja, Mazedonien hat eine lange Weinkultur, die im Kommunismus etwas gelitten hat, jetzt aber langsam zu alter Größe zurückfindet. Wir wollen am Dojran-See, den sich Mazedonien und Griechenland teilen, Quartier nehmen, direkt am Südufer liegt ein Grenzübergang (und nur einige Kilometer weiter westlich Idomeni, der Übergang, der traurige Berühmtheit erlangt hat). Für 20 Euro ohne Frühstück mieten wir uns in den „KN-Studios“ ein, einem Haus direkt an der Straße, das einer Frau gehört, die ich nur mit Zigarette im Mund sehe. Nach Duschen und Umziehen erkunden wir den Ort. Dojran hat eine Zeit lang auf griechische Touristen gesetzt, die hier ausgiebig dem Glücksspiel frönen konnten – der Ort hat ein Casino sowie etliche Hotels, die mittlerweile fast alle geschlossen haben, den Griechen sitzt das Geld eben nicht mehr locker. Rendel schaut sich noch eine Pension an, dort wird ihr auch bestätigt, was wir schon in unserer erfahren haben: dass die Pensionen kein Frühstück anbieten dürfen, weil sie dafür keine „Lizenz“ hätten. Aber Glücksspiel!
Das Restaurant „Graniko“ gegenüber unserer Unterkunft soll gut sein, hat zudem eine Veranda mit Blick auf den See. Mit dem Karpfen ist Rendel sehr zufrieden, ich nehme etwas Schweinisches, auch sehr gut (für alles mit Wein für 27,- Euro). Kurz kommen wir mit dem Mann und seinen zwei Begleiterinnen vom Nachbartisch ins Gespräch. Er spricht deutsch – und ich bin froh, dass ich meine Lästerungen im Blick auf die beiden Damen doch eher leise ausgesprochen hatte …
Zurück in unserer Pension, bin ich etwas irritiert, als ich auf der Fensterbank eine große Dose mit der Aufschrift „Snake Repellent“ sehe – Schlangenschutzmittel. Aber nicht das soll mir den Schlaf rauben, sondern die LKW, die ständig mitten durchs Zimmer zu fahren scheinen, der Grenze geschuldet, die 500 Meter weiter verläuft.
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Hier könnte man glatt Urlaub machen …
Dojran–Chorto (Pilion-Halbinsel)
Entsprechend früh sind wir wach, beschließen, erst unterwegs zu frühstücken. Der Grenzübertritt war der flotteste auf der ganzen Reise, der Mazedonier guckt nur kurz in die Pässe, der Grieche fragt nur: „Holland? Germania?“ und winkt uns durch.
An einer Autobahnraststätte holen wir das Frühstück nach. Unglaublich: Die Griechen haben hier – direkt, buchstäblich – an der Autobahn, mit der Leitplanke als Begrenzung, ein Flüchtlingscamp installiert!
Vorbei am Olymp halten wir zunächst auf Larisa, dann auf Volos zu, flott, nur immer wieder ausgebremst durch zahllose Mautstellen (auf dem Hin- und Rückweg haben wir zusammen etwa 35 Euro gelöhnt). Wir quälen uns mitten durch Volos, erst als wir raus sind, nehme ich das Schild „Volos Ring Road“ wahr – merke ich mir für den Rückweg. Rendel hat lange recherchiert, mit gutem Gefühl haben wir uns für das Örtchen Chorto, schon ziemlich weit am Ende der Pilion-Westküste, entschieden. Die Beschreibung der Studios eines Herrn Ioannis Vlassis klingen vielversprechend.
Den Pilion hatte ich schon länger auf dem Schirm, zumindest in der Nebensaison schien das noch eine ruhige, angenehme Gegend zu sein. Der Reiseführer schrieb zudem, dass die Halbinsel noch gar nicht so lange verkehrstechnisch vernünftig erschlossen sei. Nach Volos folgen noch einige etwas größere Orte, dann verläuft es sich zusehends, spätestens nach dem Abzweig nach Chorto und Trikeri ganz am äußersten Zipfel.
Die Beschreibung zu den Studios ist dürftig, Rendel fragt im Minimarkt nach. Der schüchterne Mitarbeiter und eine Kundin sind hilfsbereit, telefonieren herum, dann ist es klar: Beim Schild „Lefkothea Studios“ müssen wir runter. Das ältere Inhaber-Ehepaar wohnt mit im Haus, Mutti spricht gar kein Englisch – und Ioannis steht unter der Dusche. Aber schnell steht fest: Das ist genau der Ort für Urlaub vom Urlaub! Wir sind die einzigen Gäste, können uns unser Studio aussuchen. Ausstattung und Einrichtung sind in solchem Zustand, dass man auf Erstbezug tippen könnte. Die kleine Veranda geht zum ölbaumbestandenen Garten raus, dahinter unmittelbar das Meer mit kleinem Privatstrand. Zudem liegt das Häuschen weit genug von der Straße weg, himmlisch ruhig. Ioannis, pensionierter Polizeichef, spricht etwas Englisch und ist äußerst freundlich. Wir wollen fünf Nächte bleiben und einigen uns auf 40 Euro/Nacht. Und dafür bekommen wir auch etwas: getrennte Schlafzimmer(!), kleine Küche und ein superschönes Bad.
Rendel will gleich ins Wasser, ich hau mich ein bisschen aufs Ohr. Danach decken wir uns im Minimarkt noch fürs morgige Frühstück ein. Im Ort soll es einige nette Restaurants geben, aber direkt neben unserem Privatstrand befindet sich eine kleine Taverne. Alles ist wie das griechische Postkartenklischee: einfache Holzstühle, deftiges Essen, leckerer Hauswein, Meeresrauschen und die untergehende Sonne. Mann, geht’s uns gut!
Chorto kann nicht mit Sehenswürdigkeiten aufwarten, hier ist nur Ruhe und Entspannung angesagt. Ein Schild, das in Richtung „Theater“ weist, macht uns neugierig. Wir verlaufen uns zunächst, landen an einem Aussichtspunkt hoch über der Bucht. Das Theater ist, zumindest derzeit, eine eher trostlose Angelegenheit – eine kleine Bühne, etliche Gartenstühle, alles wirkt verwaist. Jedoch: Wenn sich das in lauschigen Sommernächten füllt, Live-Musik, Wein, nette Leute – das könnte schon was haben.
Besagte Strandtaverne soll uns noch ein weiteres Mal sehen, die drei anderen Abende essen wir im Ort, kein richtiger Reinfall darunter, immer in schönem Ambiente am Meer. Am letzten Abend trauen wir uns ins Restaurant „Ευωχία“ (Evochia), das wir immer links liegen gelassen haben, weil es sich angesichts der einfachen Tavernen irgendwie „zu positiv“ abhob, nicht ganz so „urig“, zudem schien dort nie etwas los zu sein. Heute riskieren wir es doch – und bereuen, nicht schon früher hier eingekehrt zu sein. Und prompt, nachdem wir Platz genommen haben, füllt es sich auch. Ich lasse mir Keftedakia empfehlen, lecker gewürzte Hackfleischbällchen in pikanter Sauce – sehr gute Wahl.
Unser letzter „richtiger“ Urlaubstag hat Anlaufschwierigkeiten. Während ich schon am Morgen einen Migräneanfall im Bett abwarte, höre ich draußen ein gewaltiges Klirren, gefolgt von einem Fluch, der offensichtlich meiner Frau entfährt. Ich schaue nach – beim Verrücken des Tisches auf der Terrasse ist ihr die dicke Glasplatte runtergerutscht. Unsere Gastleute sind wohl so von Rendels Zerknirschung angetan, dass sie alles daransetzen, sie zu beruhigen. Mit 30 Euro lässt sich der Schaden schließlich begleichen. Da unser Bargeld knapp wird und ich mir den schmerzenden Kopf etwas durchpusten möchte, entschließe ich mich, die paar Kilometer in den nächsten größeren Ort zu fahren, wo es einen Geldautomaten gibt. Zurück und wieder etwas auf den Geschmack gekommen, frage ich Rendel, ob sie Lust auf eine kleine Tour als Sozia hat. Letzte Winkel, abgeschiedene Ecken, das Kap am Ende einer Halbinsel – das scheint die Menschen magisch anzuziehen. Und wenn wir schon einmal hier sind, dann wollen wir auch die Umgegend etwas erkunden. So fahren wir die Innenseite der Pilion-Halbinsel ab, immer am Meer lang. Die Besiedlung wird noch dünner, ab und zu einzelne, zumeist herrlich gelegene Häuser am Meer. Letzte größere Ortschaft ist Trikeri, hoch auf dem Berg angesiedelt. Paleo Trikeri, das alte Trikeri hingegen liegt auf einer kleinen, vorgelagerten Insel. Unser „Land’s End“ soll heute das kleine Fischerdorf Agia Kyriake sein, das am fast südwestlichsten Zipfel des Pilion liegt. Die touristische Infrastruktur ist gut – etliche Tavernen, ein Minimarkt, Pensionen und „Rooms to let“, sicher nur etwas für Leute, die unter „Nachtleben“ eher ein Glas Wein unter Sternenhimmel verstehen. Für Wein ist es noch zu früh, wir holen uns ein Eis und schauen den Fischern zu.
Der Kopf ist wieder frei, die Straßen auch, zudem von guter Beschaffenheit – also gebe ich mal richtig Gas und genieße die Strecke.
Dann heißt es (geschickt) packen, so, dass möglichst viel Schmutzwäsche schon im Flieger mit nach Hause kann.
Zeitig brechen wir am Morgen auf, bei unseren Gastleuten rührt sich noch nichts, aber bezahlt haben wir ja schon. Wieder klappern wir die Mautstellen ab und sind schon viel früher als erwartet bei der Spedition. Dort scheint man sich ehrlich zu freuen, uns wohlbehalten wiederzusehen. (Sind echt sehr nette Leute dort!) Ein Mitarbeiter bietet sich an, uns ins Hotel zu fahren, denn der Flieger geht ja erst morgen. Wie der erste, so klingt auch der letzte Urlaubstag in der „Trattoria“ aus.
Die Maschine geht pünktlich ab, in Köln wartet schon unsere Fahrerin, 14 Tage drauf werden auch unsere Motorräder wieder wohlbehalten zu Hause sein.
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Ein paar Zahlen und Fakten
Wir sind am Sonntag, 15. Mai 2016, geflogen und am Tag drauf gestartet, am 9. Juni haben wir die Motorräder wieder abgegeben. Mithin waren wir „netto“ 25 Tage unterwegs, eine Woche weniger als bei unseren üblichen Türkeitouren. Die in diesem Jahr gefahrene Strecke war mit gut 3.500 Kilometer nur gut halb so lang wie die längeren Türkeitouren.
Über die Kosten haben wir nicht genau Buch geführt, sie lagen aber, auch unter Berücksichtigung der einen Woche weniger, um etwa ein Drittel unter den Preisen für die Türkeifahrten. In der Türkei haben wir zum Schluss mit einem Durchschnitts-Doppelzimmerpreis (mit Frühstück) von 50 Euro kalkuliert, in diesem Jahr bewegte es sich i. d. R. zwischen 25 und 30 Euro. Wie zum Teil oben beschrieben, liegen die Restaurantpreise, vor allem in Albanien, wesentlich unter denen der Türkei. Während die Spritpreise in der Türkei immer übermäßig zu Buche schlugen, sind sie in den diesmal bereisten Ländern ähnlich den unseren, teilweise etwas günstiger.
Wieder einmal haben unsere Uralt-Motorräder (Bj. 1994 bzw. 1996) mustergültig durchgehalten – etwas Öl, etwas Luft, etwas Kettenspray, das war’s. Auch dieses Mal hatten wir, womit ich eigentlich nicht gerechnet hatte, keine Reifenpanne.
Abgesehen von ein bisschen Migräne bei beiden von uns, waren keine gesundheitlichen Probleme zu verzeichnen, die Hygiene in den fünf Ländern war ausgesprochen gut.
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Fazit
Immer dasselbe: Erst dauert es endlos, bis es wieder soweit ist, dann geht’s los, kaum überschaubar, die vier Wochen – und dann ist es auf einmal schon wieder vorbei! Wer den Bericht aufmerksam gelesen hat, der kann sicher unsere Begeisterung verspüren, die wir vor allem für Albanien und Kosova empfinden (für die anderen Länder auch, aber das waren ja eher „Kollateral-Freuden“).
„Negativ“ war, dass wir uns in der Summe zu viel vorgenommen hatten, auch, nachdem wir inhaltlich schon etwas abgespeckt hatten. Aber das ist vermutlich vorprogrammiert, wenn man in der „schönsten Zeit des Jahres“ möglichst viel von einem neuen Land kennenlernen möchte. Entsprechend lange hat es gedauert, bis wir unsere Eindrücke halbwegs sortiert und verarbeitet haben (das Sortieren, Sichten und Aufbereiten der ca. 2800 Bilder kommt noch dazu). Auch körperlich war es sehr fordernd – ja, ja, „ihr werdet auch nicht jünger!“
Also: Alles schreit nach Wiederholung, natürlich nicht eins-zu-eins, sondern unter Berücksichtigung der diesjährigen Erfahrungen. Als Ergänzung, vielleicht mal als Kurzurlaub, erwägen wir, das eine oder andere Ziel vielleicht mal per Flieger und Mietauto anzugehen, etwa Ohrid- und Prespa-See, Prizren oder die Rugova-Schlucht.
Das latente Bedenken, mit dem vorläufigen Abschied von der Türkei vielleicht die falsche Entscheidung getroffen zu haben (das sich bis zur Abreise immer mal meldete), hat sich völlig zerstreut; wenn jetzt schon mal hin und wieder der Gedanke an eine weitere Reise aufkeimt, haben wir nur „die Schluchten (und Seen und Wälder und Menschen) des Balkan“ im Kopf.
© 2016 Detlev Simon
Stand: 1.7.2016