Türkei 2010

„Nicht auf die leichte Tour“  – Türkei 2010

   
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Einleitung

Drei Motorradreisen in Folge – nach über zwanzig Flugreisen – in die Türkei lagen hinter uns, die letzte mit dem „Abstecher“ nach Syrien. In der Zusammenschau nehmen sich die Routen aus wie der Streckenplan eines türkischen Überlandbus-Unternehmens. Also noch ein viertes Mal? Um nicht ganz auf die Gegend, die uns so liegt, verzichten zu müssen, fingen wir mit konkreten Planungen für Armenien an, doch irgendwie wollte der Funke nicht recht überspringen. So schön uns das Land einerseits geschildert wurde, so trostlos kam es uns zugleich vor. Zudem hatten wir uns zeitlich wieder auf Mitte Mai als Starttermin festlegen müssen, eine Zeit, die uns für Armenien vom Wetter her als noch etwas zu früh im Jahr vorkam.

Schon 2009 hatten wir angedacht, auf der Rückreise von Syrien noch einmal in die östliche Türkei zu fahren, die Kräfte und auch die Überfülle der Eindrücke und Begegnungen ließen das dann doch nicht mehr zu. Da wir auf unserer großen Türkei-Rundtour 2008 noch etliche Ziele links liegen lassen mussten, wollten wir, als dann feststand, dass es doch wieder Richtung „Güneydoğu Anadolu“, nach Südost-Anatolien, gehen sollte, in diesem Jahr auf eine Mischung aus Neuem und Bewährten setzen. Zum einen wollten wir die neuen Ziele ansteuern, die uns noch sehenswert erschienen, sodann gerne noch einmal etwas längere Zeiten an Orten verbringen, die uns schon früher als Stationen zum Relaxen gut gefallen hatten, die sich also zum Urlauben im engeren Sinne eigneten. – Die Würfel waren gefallen: Mindestens einmal würde es noch mit den Motorrädern in die Türkei gehen.

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Reisevorbereitungen

Da wir mit denselben Motorrädern und zur selben Jahreszeit wie in den Vorjahren fahren würden, konnten wir auch auf dieselbe bewährte Ausrüstung zurückgreifen, darum verweise ich diesbezüglich auf die Reiseberichte 2007 bis 2009. Ich habe mich lediglich nach längerem Abwägen für die Mitnahme eines Netbooks entschieden, was ich nicht bereut habe. Das Sichern und Sichten der Fotos ist damit schnell gemacht, mit der Trackaufzeichnung des Navis kann man schon abends nachverfolgen, wo man sich tagsüber den Hintern wund gesessen und sich verfahren hat, wenn die Unterkunft über WLAN verfügte, konnten wir per Mail hin und wieder ein Lebenszeichen von uns geben, zudem tippte ich die Geschehnisse des Tages gleich brühwarm in den Computer.

Die Hin- und Rückreise ging wieder in der Kombination Flug und Spedition über die Bühne, die Motorräder gaben wir also zehn Tage vor Reisebeginn bei der Spedition ab, die sie dann ab Montag, 10. Mai, in Oreokastro, einem Vorort von Thessaloniki, bereithielt, wir flogen am 9. Mai hinterher.

(Preise sind in diesem Bericht zumeist in Türkischen Lira/TL angegeben. Zu unserer Reisezeit bekam man für einen Euro im Schnitt 1,95 TL. Was dann z. B. bedeutete, dass wir für den Liter Benzin, der mit TL 3,80 ausgezeichnet war, umgerechnet etwa € 1,95 auf den Tisch legen mussten. Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Unterkunftspreise auf ein Doppelzimmer mit Frühstück.)

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Hindernisse im Vorfeld

Ich bin wirklich fertig mit den Nerven! Noch nie waren mir die letzten Wochen vor der Abreise in einen Urlaub so stressig vorgekommen, diesmal türmten sich Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten en masse. Vor allem der Vulkan auf Island machte mir Bauchschmerzen. Eine Stornierung des Speditionsauftrags würde uns, falls wir kurzfristig eine andere Anreisevariante wählen würden, schon jetzt 70% des Preises kosten, doch was, wenn die Motorräder glücklich in Griechenland stünden und wir wegen des qualmenden Schlotes längerfristig nicht hinterherkämen? In meiner Verzweiflung buchte ich zwei Busfahrten nach Thessaloniki – als Reserve. Das beruhigte zwar etwas, doch die Aussicht auf eine zweitägige Busfahrt war auch nicht gerade verlockend, schließlich war ich froh, das Ticket verfallen lassen zu müssen. Die deutsche Flugsicherung hatte ihre Streikplanungen wegen des Vulkans zwar auf Eis gelegt, dafür streikten die Fluglotsen in Griechenland. Dazu kamen noch gesundheitliche Probleme usw. usf.

Aber schließlich waren alle diese Widrigkeiten ausgemerzt bzw. durchgestanden, den Kollegen habe ich beim Abschied noch versichert, dass fünf Wochen Urlaub soo lange ja auch nicht seien, den Wohnungsschlüssel bei den Nachbarn deponiert – es konnte tatsächlich losgehen!

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Sonntag, 9.5., Flug nach Thessaloniki

Dalibor, unser kroatischer Nachbar, fährt uns zum Bahnhof, in Köln-Bonn geht es fünfzehn Minuten zu spät los, Grund ist doch wieder der Vulkan, etliche süddeutsche Flughäfen sind geschlossen, was sich indirekt auch auf Köln-Bonn auswirkt. Trotzdem sind wir überpünktlich in Thessaloniki. Die Taxifahrt ist ausnahmsweise ohne Stau, so sitzen wir um kurz vor Mitternacht in lauer Sommerluft auf dem Balkon. Hat super geklappt.

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Montag, 10.5., Oreokastro–Biga

Fahrstrecke: 502 km/Fahrzeit: 6:00 h

Gegen gegen halb zehn sind wir bei der Spedition. Die Moppeds sind wohlbehalten angekommen. Schnell aufgerödelt und umgezogen, wir kommen schon ins Schwitzen. Eine BMW-GS aus Recklinghausen wird auch gerade angeliefert. Schnell aus Oreokastro raus, blauer Himmel, Richtung Chalkidiki. Den ganzen Tag zwischen 25 und 30°C, das Fahren klappt super, auch bei Rendel, die sich ja erst wieder „einfahren“ muss. Gegen 15 Uhr an der Grenze, Rast, Zigarillos im Duty-Free-Shop kaufen. Ein italienisches Paar auf einer BMW-RT will über İstanbul nach Kappadokien, wir weisen sie noch auf die Tempolimits hin.

Endlich Türkei! Die Fähre in Gelibolu wartet schon, dann Richtung Biga. Zieht sich wegen Baustellen und LKW ziemlich, das Hotel MRG finden wir mit einer Mischung von Intuition und Navigation schnell. Um 19 Uhr sind wir auf dem Zimmer. Die Tiefgarageneinfahrt ist immer noch eine Wackersteinpiste, weswegen ich beide Moppeds runterfahre.

Rendel hat sich super geschlagen. Geduscht freuen wir uns auf das Abendessen im Hotelgarten.

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Dienstag, 11.5., Biga–Polatlı

Fahrstrecke: 498 km/Fahrzeit: 6:00 h

Das Abendessen war wie erwartet köstlich, auch das ruhige Ambiente verschönert uns den Start, danach gehen wir früh schlafen.

Die Nacht war sehr erholsam, wir starten zeitig. Diesmal finden wir schnell aus der Stadt und halten uns Richtung Bandırma/Bursa. Die schöne Strecke, vor allem entlang des Uludağ-Massivs Richtung Eskişehir, ist angenehm zu fahren, meist leer und landschaftlich schön. Trotz um die 28°C ist die Temperatur erträglich, auch bei Stopps. Einzige Sozialkontakte tagsüber sind die Tankwarte. Etwas geschafft treffen wir gegen 16.30 Uhr in Polatlı ein, wo wir das Ausbildungshotel für angehende Baumängelsachverständige, das Duatepe, gleich finden (siehe unseren 2009er-Bericht). Wir bekommen ein Zimmer mit Balkon und Blick auf die Hauptstraße (für TL 90).

Nach Duschen und Ausruhen geht es in die Landesmastanstalt, das Konya Tandir, wo wir uns schon im letzten Jahr überfressen haben. Ich nehme Beyti Kebab, Rendel Etli Pide, davor eine leckere Mercimek-(Linsen-)Suppe. Und immer wieder Nachschub an Beilagen – nicht mal ein Tee geht noch rein. Alles zusammen kostet uns TL 20. Auf dem Rückweg greifen wir noch Bier ab (und Chips, falls der Hunger doch noch wiederkommt …)

Rendel ruft für morgen im Old Greek House an, wo sie noch ein Zimmer frei haben!

Wir machen es uns noch auf dem Balkon bequem, hoffen, dass wir ins WLAN kommen, klappt aber irgendwie nicht.

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Mittwoch, 12.5. Polatlı–Mustafapaşa

Fahrstrecke: 415 km/Fahrzeit: 5:30 h

Nachdem es draußen ruhig geworden war, haben wir gut geschlafen, um neun Uhr sind wir unterwegs. Ein schöner, kühler Morgen mit 17°C. Wir finden schnell auf die Straße Richtung Konya. Eine herrliche Strecke auf kleineren Straßen, so gut wie kein Verkehr. Und keine Blitzer. Einmal trau ich mich, auf 150 aufzudrehen. Auf einem Dorf tanken wir. Die Kreditkarte tut’s nicht. Ein schmutziges Mädchen geht uns um Geld an und wird ziemlich frech. Als „Verbindungsetappe“ ist die Strecke optimal.

Gewohnt, aber doch immer wieder etwas erstaunlich, dass uns Autofahrer und Passanten freundlich zuwinken und uns grüßen. Auch die drei jungen Männer, die zusammen mit einem Auto in einem Bach stehen – kein Unfall, die drei waschen den Wagen, der auch bis zu den Achsen im Wasser steht. Der letzte Teil der Strecke vor Aksaray geht über den Tuz Gölü, den großen Salzsee. Zumeist ist das gar kein See, sondern eher eine Steppe mit matschigen, schmutzig-grauen Flecken, wo noch etwas Wasser steht. Wer hier eine Landschaft wie etwa bei den Salzseen in Utah erwartet, wird enttäuscht.

Obwohl die Etappe etwas kürzer ist, sind wir am Ende recht geschafft. Endlich in Kappadokien. Den Weg nach Mustafapaşa und zum Hotel finden wir schnell. Wir haben ja vorgebucht und bekommen ein sehr schönes Zimmer. Das Old Greek House ist das Gegenstück zum Duatepe. Im Winter wurden die Bäder neu gemacht, für hiesige Verhältnisse perfekt. Die Inhaber erkennen uns wieder und begrüßen uns herzlich, u. a. mit einem Willkommensdrink. Bis auf drei holländische Wanderpaare sind wir zunächst alleine; das Hotel hat auch wegen der Vulkanasche etliche Stornierungen zu verkraften. Morgen soll für zwei Tage eine amerikanische Reisegruppe kommen. Beim Abendessen unterhalten uns mit einem der holländischen Paare. Sie machen eine halborganisierte Wanderreise – wandern auf eigene Faust, Unterkunft vorgebucht und das Gepäck wird transportiert. Sie waren auf diese Weise schon in Nepal, Patagonien und Norwegen.

Wir verlassen uns beim Essen auf die Empfehlung des Patron. Und der fährt auf! Bekanntes wie Sigara Börek, aber auch ein Gericht, das wir so noch nicht kennen: ein Mus aus gebratenen Auberginen, darauf eine Lage Joghurt, dann gebratenes Hack – köstlich. Hauptgang Hackfleischbällchen, auch sehr delikat. Als Wein einen kappadokischen roten Koçabağ – besser geht’s nicht.

Nach dem Essen hören wir Motorräder vorfahren. Ich renne runter zur Tür, vier Öster-reicher, die zehn Tage mit Leihmoppeds von Antalya aus im Osten waren. Heute kommen sie aus Malatya. Nach dem Essen unterhalten wir uns noch. Angenehme Leute, zwei Anwälte, ein Unternehmer und ein Pensionär. Aufmerksam lauschen sie unseren Schilderungen. Einer der beiden hatte einen Sturz, Folge: Abschürfungen und Schulterprellung.

Müde fallen wir ins Bett. Über uns an der Zimmerdecke hören wir ein unheimliches, kratzendes Geräusch. Mäuse? Oder welche von den handtellergroßen Kamelspinnen? – Egal, wir schlafen tief und fest.

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Donnerstag, 13.5., Mustafapaşa

Ausgeschlafen begeben wir uns ans Frühstück, auf das wir uns schon sehr gefreut haben, vor allem auf die Marmeladenauswahl. Die Ösis machen sich startklar, wollen heute nach Konya und dann zum Rückflug nach Antalya. Wir helfen dem Verunfallten noch mit unserem Verbandszeug, dann Verabschiedung mit Fotosession. Die vier kommen aus Villach (nicht nur mit Vogel-Vau geschrieben, sondern auch so gesprochen, wie sie mir sagen).

Heute müssten sich Hans-Jürgen und Petra auf den Weg machen, die Vulkanasche ist immer noch ein Risiko, das sich noch verschärfen soll. In Polatlı konnten wir deutsche Nachrichten schauen, das Wetter in Deutschland muss scheußlich bis katastrophal sein.

Hier habe ich mal Internetzugang, kann Mails checken. Rendel wird halb dienstlich tätig, beantwortet eine dringende Anfrage einer befreundeten Klientin.

Das Leben kann so schön sein!

Heute spannen wir aus, auch die Moppeds haben Ruhetag. Rendel wäscht, alles so, wie wir es geplant und gehofft haben.

Die Mäuse/Kamelspinnen haben sich übrigens als kleines Kätzchen entpuppt, das sich auf den Dachboden geschlichen hatte und sich nicht mehr herunter traute. Zusammen mit den Zimmermädels haben wir das halbverhungerte und verängstigte Tier schließlich befreit.

Während ich mir die ursprünglichen Funktionen der Räume im Old Greek House erklären lasse (wir schlafen im Saçmalık, dem ehemaligen Brennholzlager), besucht Rendel unseren „Opi“ Çavit, der sich immer ehrlich freut, uns zu sehen. Noch nie hat er versucht, uns irgendwas aus seinem Shop zu verkaufen. Er hält weiter an seinen „two new english words a day“ fest. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er in den 1960ern als Offizier in Savur stationiert war, einem Ort, den wir auch wieder anfahren wollen. Ungewöhnlich seine Aussage, dass er die Kurden als nette und freundliche Menschen sehr schätzt, so dass ihn hin und wieder extra welche besuchen, dasselbe sagt er von den Griechen. Konflikte, sagt er, werden nur von interessierter Seite geschürt und gepflegt. „Das Leben“, meint er, „ist zu kurz, um schlecht über andere Menschen zu denken“ – sicher eine bedenkenswerte Aussage. Rendel profitiert von dem gescheiten Austausch zusätzlich, als er ihr das Englische gleich auch nachvollziehbar in Türkisch übersetzt.

Das Gebäude des Old Greek House ist fast jedem Türken bekannt, wenn auch nicht unter diesem Namen: Hier spielte die beliebte türkische Soap „Asmalı Konak“, weswegen auch immer kurz türkische Besuchergruppen durchs Haus geistern – und dann auch mal in unserem Zimmer stehen.

Nachdem wir Interesse an seinen zwei weiteren Häusern gezeigt haben, nimmt uns der Old Greek House-Patron mit, uns diese zu zeigen. Das Upper Greek House liegt ruhig oberhalb des Orts. Zwölf große, aufwändig ausgestattete Zimmer, teilweise als in den Tuff gegrabene Höhlenzimmer. Interessant ist ein Gang, den der Chef erst vor Kurzem entdeckt hat und der in einem riesigen Raum mündet. Gang und Raum waren fast einen Meter tief verschüttet. Da alles unter Straßenniveau liegt, stellte sich die Frage, wie man das frei räumt. Schließlich schlug er einen Schacht nach oben, durch den mittels eines Lastenaufzugs alles weggeschafft werden konnte. Nachdem alles durchgetrocknet ist, soll der Raum als Restaurant oder für kleinere Veranstaltungen dienen.

Oberhalb des Old Greek House hat der Patron ein weiteres Projekt in Arbeit. Alte, halb verfallene Häuser werden mit neuen Fassaden versehen, schöne Hotelzimmer, z. T. schon jetzt eingerichtet und als Reserve für das Old Greek House dienend, entstehen. In der Nachbarschaft befindliche Höhlen sollen als Zimmer angegliedert werden. Im Moment kann man noch nicht drin stehen, der Boden muss noch einen Meter vertieft werden, jetzt sind die Höhlen noch „roh“, so, wie sie vor vielen Jahren verlassen wurden. Zwar bekommt der Komplex auch einen Swimmingpool, doch soll, so der Patron, wer Disco will, nach Ürgüp oder Nevşehir fahren. Das Projekt, das er mit einem Partner realisiert, soll etwa 1,5 Millionen Euro kosten. – War eine interessante „Exkursion“.

Schön zu sehen, wie sich der Inhaber und Familie im Tagesverlauf immer mit den Mitarbeitern zu den Mahlzeiten zusammensetzt. Überhaupt herrscht hier eine angenehme, freundliche Atmosphäre. Und auch nett, dass wir wieder dazu gebeten werden – was wir aber um 17 Uhr angesichts des zu erwartenden üppigen Abendessens ablehnen (müssen). Stimmt nicht ganz, Rendel kann dann doch nicht widerstehen.

Der Abend klingt in beruhigender Routine aus – bei gutem Essen und Wein.

Spruch des Tages: „Hürriyet ve istiklal benim karakterimdir. – Freiheit und Unabhängigkeit sind mein Wesen.“ (Atatürk)

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Freitag, 14.5., Mustafapaşa/Soğanlı-Tal

Heute wollen wir eine kleine Tour in die Umgegend machen, Ziel: die Saray-Kirche im Erdemli-Tal, also Richtung SO. Die herrliche Strecke vorbei an hohen, schroffen Felsen kennen wir zum Teil schon. An einem Jandarma-Posten fragen wir nach dem Weg, doch finden wir zwar den Ort Erdemli, nicht jedoch die Kirche. Die folgende Fahrstrecke an sich entschädigt jedoch für das Entgangene. Wir haben kein Wasser mit, im Dorf Kavak sehe ich so was wie einen Market, zudem steht da etwas von Çay. Also frage ich: „Çay var mı?“ – „Gibt’s hier Tee?“, was bejaht wird. Ein paar Dörfler, darunter zwei uralte Männer, begrüßen uns herzlich, Hocker werden rausgestellt, Tee gekocht – eine dieser typischen netten Begegnungen am Rande.

Wir entschließen uns, nochmal zu dem Abzweig nach Soganlı zu fahren, wo wir die Jandarma nach dem Weg gefragt hatten. Ein Blick in den Reiseführer zeigt, dass das Soganlı-Tal mit seinen Kirchen zu den schönsten in Kappadokien gehört, nur etwas abgelegen und daher nicht so stark frequentiert. Schon die Kulisse bedeutet uns, dass der Umweg gelohnt haben wird. Das Tal weist eine Reihe von Kirchen auf, die größtenteils nicht nur einfach als Höhlen in den Fels geschlagen, sondern aus dem Tuff herausmodelliert wurden, zum Teil unter Einbeziehung der natürlichen Ausformungen. Besonders schön sind die Yilanlı– und die Kuppelkirche.

Donner und einige Regentropfen mahnen zum Aufbruch, es bleibt aber bei den paar Tropfen. Hier kommt Rendels motorradfahrerischer Schwachpunkt zum Tragen – das Wenden mit kleinem Radius, zudem auf Schotter. Beim Parken bekommt sie nur mit Schweiß auf der Stirn die Kurve, als wir später nochmal wenden müssen, schafft sie es nur mit einem halsbrecherischen Manöver. Das müssen wir noch üben!

Wieder im Hotel, gönnen wir uns ausnahmsweise mittags Salat und Menemen, eine Art Rührei mit Tomaten und Peperoni. Unser kleiner Ausflug war 140 Kilometer lang und wird sicher zu den Höhepunkten unser Tour gehören.

Von den anderen Türkei-Reisenden aus unserem Bekanntenkreis haben wir bislang nichts vernommen, sie müssten auch schon in Zentralanatolien sein.

Der Reiseleiter der Amis bestätigt uns, dass es heute wieder einen Folkloreabend geben wird. Wir quatschen noch ein wenig im Kreis der Familie und Angestellten. Als wir uns nach dem Essen die Beine vertreten wollen, sehen wir den Opi, der schon vor zwei Jahren bei der Veranstaltung getanzt hat. Seine Trommel hat er an seine Uralt-Ural gebunden – Baujahr 1968. Achmed – so heißt er – erzählt uns mit feuchten Augen seine Geschichte. Anfang der 1970er arbeitete er in Köln bei Ford, bis ihn die Krankheit seiner Frau – Blutkrebs – zwang, in die Türkei zurückzukehren. So pflegte er sie bis zum Tod. Seit zwölf Jahren verdient er sich ein Zubrot mit seinen Tanzdarbietungen, zudem versorgt er das Old Greek House mit Eiern und Milch.

Mit seinen 72 gibt er noch einen guten Entertainer ab, auch die Amis sind begeistert. Immer wieder drückt er mich an sich und strahlt. Er erzählt, dass er auf seiner Ural mal ein Touristenpärchen nach Soğanlı und zurück gefahren hat – drei Erwachsene auf einem 2,8-PS-Zweitakt-Oldtimer hundert Kilometer weit!

Ein schöner Tag, leider gibt meine Harnwegsinfektion keine Ruhe.

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Samstag, 15.5., Mustafapaşa–Elazığ/Hazar Gölü

Fahrstrecke: 530 km/Fahrzeit: 7:20 h

Heute steht uns eine heftige Etappe bevor. Wir zahlen (€ 365 für drei Nächte mit HP und Wein). Ohne Tränen, doch herzlich, verabschieden wir uns von unseren Gastgebern. Tanken, dann geht es Richtung Kayseri. Lange Zeit begleitet uns der Erciyes Dağı, der Hausberg von Kayseri. Die Fahrt verläuft reibungslos. Auf freier Strecke machen wir am Straßenrand Rast. Ein LKW-Fahrer schaut sich besorgt fragend nach uns um. Kurz drauf hält ein Autofahrer, fragt, ob wir Probleme hätten – als wir verneinen, dreht er wieder um. Der Trucker hat ihn augenscheinlich gebeten, mal nach uns zu schauen. Die Fremdenfeindlichkeit scheint hier eher gering ausgeprägt zu sein – echt toll.

Ein Stück vor Malatya halten wir an einen Jandarma-Posten, als eine gewaltige, ohrenbetäubende Detonation die Stille zerreißt. Rendel zuckt zusammen. Entwarnung, die Straße ist für 45 Minuten wegen Sprengarbeiten gesperrt. Der Schreck ist jedoch nicht völlig unbegründet, bei Bingöl ist erst vor einigen Wochen eine Militärstreife in eine Sprengfalle geraten, kurz vor unserer Abreise gab es einen Anschlag bei Tunceli.

Wir unterhalten uns ein wenig mit den Mit-Wartenden, unser heutiger Zeitplan gerät in Gefahr. Schließlich geht es weiter. Langsam kommen wir in den Bereich des Keban-Stausees mit seinen Ausläufern. Kurz vor Elazığ biegen wir in Richtung Sivrince ab – hier soll das Hotel Mavi Gölü liegen. Leider können wir zur Voranfrage niemanden erreichen, hoffen, das Hotel hat auf. Das letzte Stück der Etappe ist unwirklich schön, besonders in der Abendsonne. Wir hoffen jedoch, vor der Dunkelheit ein Hotel zu haben. In Sivrince schickt uns ein Polizist ans Nordufer, dabei hat GoogleEarth die Lage des Hotels am Südufer angezeigt. Schließlich finden wir es: nicht mehr ganz taufrisch, teuer (TL 130 die Nacht), aber immerhin. Schnell geduscht und ins Restaurant am See. Wir begnügen uns mit Suppe und Vorspeisen, sind aber trotzdem pappsatt. Der Wein ist teuer, ist mir aber heute egal. Wir machen noch Planungen für morgen: direkt Richtung Van-See, Diyarbakır, noch eine 130-Lira-Nacht am See? Wir werden sehen.

Durch den Hazar Gölü („Göl“ steht für „See“) fließt der Maden, der Quellfluss des Tigris.

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Sonntag, 16.5., Hazar Gölü–Diyarbakır

Fahrstrecke: 123 km/Fahrzeit: 2:00 h

Wir haben uns für Diyarbakır entschieden. Wir frühstücken wieder draußen im Restaurant – mit Honig aus der Wabe und dem leckeren aufgeblähten Brot. Die ganze Crew verabschiedet uns, freundlich, aber alles doch etwas zu „verordnet“. Beim Tanken versuche ich zum wiederholten Male vergeblich, Luft aufzufüllen – die Fülladapter passen einfach nicht zwischen Nabe und Ventil. Bei einem Otolastici, einem „Reifenfachbetrieb“ (meist Bastelbuden, in denen auf dem rohen Boden gewerkelt wird), klappt’s endlich. Unterwegs machen wir noch einen Boxenstopp, Rendels Sitzbankbefestigung hat sich gelöst, zudem will ich Öl nachfüllen, was aber offensichtlich noch nicht nötig ist.

Die Fahrstrecke ist vielfältig und meist schön, aber es wird heiß, bis zu 35°C. Wir wollen ins Hotel Kaplan in Diyarbakır, welches das Navi auch kennt. Tatsächlich finden wir auf Anhieb dorthin. Erstaunlich ist der relativ „dünne“ Verkehr, liegt vielleicht an der Armut, die in dieser Gegend herrscht. In einer Gasse sehen wir das Hotelschild, parken und beziehen unser Zimmer. (Später stellen wir fest, dass wir gar nicht im Kaplan gelandet sind, sondern eine Tür weiter … Dort wären die Zimmer wohl etwas schöner gewesen, aber für TL 50 geht das okay.)

Duschen, etwas ruhen – dann laufen wir los. Die Gegend, in der wir wohnen, ist in gewissem Sinne Altstadt, d. h., sie liegt in dem Bereich, der von den Resten der mächtigen, etwa sechs Kilometer langen alten Stadtmauer eingefasst wird. Neben alten Gebäuden sind es aber zum Großteil neuere.

Sofort fällt einem der allgegenwärtige Müßiggang auf, der jedoch zumeist erzwungen ist, die Arbeitslosigkeit in der Gegend soll bei über 60% liegen. Entsprechend arm wirkt die Stadt. Zum Teil schmutzig und verfallen, zum Teil aber auch sehr modern, etwa das neue Aleman Hospital. Und dann die Kinder! Massen, die in den Gassen mit einfachem Spielzeug herumtollen. Uns erstaunt, dass sie relativ zurückhaltend sind, zwei-, dreimal werden wir um „Munny“ angegangen oder uns mit Herz erweichendem Gesichtsausdruck Papiertaschentücher zum Kauf angeboten, hin und wieder das eher freundlich-interessierte „What’s your name?“, ansonsten bleiben wir unbehelligt.

Wir orientieren uns in Richtung Zitadelle, die einen umschlossenen Bereich in der Nordost-Ecke der Stadtmauer bildet. Massive Mauern aus schwarzem Basalt haben den Jahrhunderten getrotzt. Zwei junge Männer sprechen uns auf Englisch an, das übliche „Wo kommt ihr her?“ etc. Sie bieten uns an, uns die Ecke ein wenig zu zeigen, führen uns zu einer alten Kirche, die jetzt renoviert wird. Rein können wir nicht, durch die dicken Panzerglasscheiben können wir aber alte Pracht erahnen. (Auch in das Archäologische Museum können wir nicht – es ist seit Jahren geschlossen.) Direkt daneben erstreckt sich der düstere Bau eines Gefängnisses.

Die beiden Männer lassen uns noch etwas an ihrer Anschauung teilhaben, erzählen von der Armut, der fehlenden Arbeit und ihrem Hass auf die Türken (der eine offensiv, der andere, der eine Türkin zur Schwägerin hat, etwas moderater).

Von der Stadtmauer haben wir einen weiten Blick auf den Tigris und die mesopotamische Ebene.

Als wir uns verabschieden, geben die beiden uns noch den Rat, uns ab dem späten Nachmittag nicht mehr in dieser Gegend aufzuhalten, ein Rat, den wir auch schon im Reiseführer gelesen hatten. Auf dem Weg treffen wir noch einen jungen Mann, der sich uns schon im Hotel als Guide vorgestellt hatte. Er hatte aber von sich aus eingesehen, dass wir ihn nicht unbedingt brauchen. Das erklärt er dann auch seinen Freunden: „Das sind keine Touristen, die sprechen Türkisch!“

Ich suche mir einen Berber („Barbier“). Das gründliche Rasieren („Komplett Gilette“) ist wie üblich, die kleinen Wangenhärchen werden diesmal nicht abgeflämmt, sondern mit Heißwachs entfernt. Dann greift der Meister zu einem Tiegel, dessen Inhalt er mit einem Pinsel aufträgt. Nachdem er das Ganze mit einem Fön getrocknet hat, sehe ich, dass er mir eine klassische Schönheitsmaske verpasst hat. Rendel ist begeistert, jedoch wird die Schicht dann wieder abgewaschen. Derart schön gemacht, kann ich mich wieder unters Volk wagen. Die TL 15 sind für hiesige Verhältnisse sicher etwas überzogen, ich gönne dem Meister aber den Lohn für seine gute Arbeit.

Wir sind noch unschlüssig, ob wir noch einen Tag hier dranhängen oder gleich morgen nach Çolpan an den Van-See fahren sollen. Während ich an dem Bericht tippe, macht Rendel den Scout und erkundigt sich über weitere Sehenswürdigkeiten.

Vorläufiges Fazit: Die Stadt hat ein ganz eigenes Flair. Das Abweisende, von dem wir in Reiseführern lasen und von dem uns andere Touris erzählten, fiel uns nicht auf. Vielleicht nicht diese überbordende und manchmal eben auch etwas aufgesetzt wirkende Freundlichkeit, aber doch Hilfsbereitschaft, grundsätzliche Freundlichkeit und Interesse. So wurden wir auf offener Straße gefragt, ob man uns weiterhelfen könne. Und dann dieses offensichtliche Elend, die fast greifbare Perspektivlosigkeit, diese Armut und der Schmutz.

Ein Besuch hier lohnt in jedem Fall, ein klein wenig „Mut“ und Offenheit gehört aber auch dazu, denn die Türkei, die man vom Westteil her gewohnt ist, ist Diyarbakır, die „Kurdenhochburg“, ganz sicher nicht.

Abends wollen wir uns eigentlich zum Essen aufmachen. Vorher schlendern wir noch ein wenig über die Gazi Çaddesi, schauen in die große alte Karawanserei, die jetzt sehr schön kleine Cafés und Shops beherbergt. Uns spricht ein Mann auf Englisch an, den wir erst abwimmeln wollen. Dann gehen wir doch auf ihn ein. Ali heißt er, kommt ursprünglich hier aus Diyarbakır, wohnt aber seit Langem in London, von wo aus er als BBC-Kameramann arbeitet (was er uns später auch noch mittels seines Presseausweises und eines Fotos, das ihn bei der Arbeit zeigt, belegt). Er bietet sich an, uns noch ein wenig die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Leider wird es langsam dunkel und ein heftiger Sturm aus Syrien mit viel Staub zieht auf. Trotzdem gehen wir beim Mardin-Tor nochmal auf die Stadtmauer, von der aus man die On-Gözü-Brücke („Zehn-Augen-Brücke“; mit zehn unterschiedlich großen Bögen) über den Tigris sehen kann, besichtigen die Marienkirche, die noch von einigen wenigen Familien genutzt wird (und deren Küster ein Moslem ist). Ali kennt jeden, und so kommen wir auch so spät noch rein und dürfen – eigentlich nicht erlaubt – fotografieren. Auch in den Innenhof der Ulu Camii, der großen Moschee, dürfen wir noch und schauen uns eine Kuriosität an – das „vierfüßige Minarett“, freistehend und eben auf vier Säulen ruhend.

Ali hetzt voran, mir wird schon flau, fühle mich zunehmend dehydriert. Ali, das muss man wirklich sagen, hat keinerlei finanziellen o. ä. Interessen, hängt sich nur wie eine Klette an einen (so bestätigt uns am nächsten Tag auch ein englisches Paar), um zu reden und seine Kenntnisse weiterzugeben.

Schließlich bestehe ich darauf, endlich ein Restaurant anzusteuern, und zwar eines, das auch Bier serviert. Natürlich hat Ali dahingehend auch einen Vorschlag. Schon zuvor hatte er von einem Lokal erzählt, an dessen Decke ein prächtiger geschnitzter Davidstern prangen soll, Hinterlassenschaft der ehemaligen Besitzer. Versteckt in einer dunklen Gasse, die wir nie gefunden, geschweige denn betreten hätten, findet sich ein authentisches kurdisches Lokal, mit schönem Innenhof und einem im ersten Stock gelegenen Laubengang. Hier, außer Sichtweite der anderen Gäste, wird uns Bier serviert, das schnell besorgt wurde. Da er sich eh kaum abwimmeln ließe und wir uns gerne auch für seine wirklich schöne Führung erkenntlich zeigen wollen, laden wir Ali zum Essen ein. Spezialität des Hauses ist saç tava, frittiertes Lammfleisch in einer flachen Eisenpfanne. Gegessen wird direkt aus der Pfanne mit den Händen, das Fleisch mit Fladenbrot aufgenommen. Ich regeneriere mittels einer doppelten Efes-Pils-Dosis, während Rendel sich einen Ayran bestellt. Der wird in einer großen Silbertasse serviert, dazu derart aufgeschäumt, dass der Schaum die Tasse hinunterläuft. Das saç tava mundet hervorragend, auch hier sind wir froh, Alis Rat gefolgt zu sein. Das Gespräch dreht sich noch zumeist um die Lage der Kurden, zudem erzählt er aus seinem Leben. Mit seinen 38 Jahren hat er schon einiges erlebt. So war er u. a. als Blauhelm unter Kurden im Nordirak. Dabei hatte er einen schweren Autounfall, ein Foto des zerstörten UN-Wagens und die tiefen Dellen an seinem Kopf als Folge der Operationen sind Zeugen davon. Ali ist ziemlich polyglott, selbst Japanisch zählt zu seinem Repertoire, er war mal mit einer Japanerin verlobt und wohnte eine Zeit in Japan. Im Übrigen hält er Adnan Menderes (der 1961 nach einem Militärputsch gehängt wurde), Turgut Özal (der vor der Zeit an einem Herzinfarkt starb) und den jetzigen Regierungschef Recep Tayyıp Erdoğan (der noch lebt) für die besten Ministerpräsidenten, die die Türkei bislang hatte.

Wir zahlen – gut 90 TL – und gehen. Auf der Straße treffen wir noch ein Paar aus Neuseeland, von dem Ali schon erzählt hatte. Sie wohnen ein paar Tage bei ihm. Die beiden sehen aus wie Edel-Althippies – gepflegt, aber freakig, er mit geflochtenem Bart und Rasta-Mütze. Sie scheinen wohlhabend zu sein, da er u. a. eine „Voxan“, ein französisches Exoten-Motorrad, sein Eigen nennt.

Kurz drauf sind wir im Hotel. Rundherum in den Teehäusern schauen die Männer Fußball, weswegen wir das Angebot ablehnen, die Moppeds im nächstgelegenen Teehaus zu parken, denn dann müssten wir den Abpfiff abwarten, wir wollen jedoch ins Bett. Draußen lärmt es. Gerade bin ich eingeschlafen, da klingelt das Telefon. Der Rezeptionist fragt, ob wir die Motorräder nicht doch reinstellen wollen. Rendel verneint – eine Stunde später dasselbe Spiel, Rendel hat Mühe, sich durchzusetzen. Mittlerweile bin ich hellwach und grüble, ob es vielleicht doch sicherer gewesen wäre …

Jetzt halten mich zudem die Schmerzen im „Urogenitaltrakt“ wach, an denen ich schon seit Tagen leide. Das Antibiotikum hilft dagegen nicht – was ist, wenn es im Osten dann noch schlimmer wird? Hier hingegen gibt es große Krankenhäuser. So entschließe ich mich, morgen ins Aleman Hospital zu gehen.

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Montag, 17.5., Diyarbakır

Die Moppeds sind noch da und komplett.

Leider ist der Urologe im Aleman Hospital selbst krank, wir werden an das in der Nachbarschaft gelegene Veni vidi-Krankenhaus verwiesen. (Wie die auf den Namen kamen, weiß ich nicht, ist wohl die verkürzte Form des bekannte Ausspruchs: „Ich kam, sah und siechte.“) Beides sind privat geführte Polikliniken. Uns spricht ein Mann an, ob er uns helfen könne. Wieder mal lehnen wir erst ab, um dann doch dankbar darauf zurückzukommen. Omar – wir halten ihn erst für eine Art Krankenhelfer, stellt sich dann aber als Putzkraft heraus – ist Gold wert. Ich erkläre ihm mein Problem und er schleust uns in Windeseile durch alle Instanzen und Abteilungen. Erst zur Kasse, dann zum Urologen: Tastbefund, Omar immer dabei, was gut ist, denn er spricht Englisch. Dann zur Blutabnahme, nochmal zur Kasse, dann zur Sonografie. Eineinhalb Stunden können wir ins Hotel, dann sind die Blutwerte da (wieder beschleunigt dank Omar, der einen Freund im Labor hat). Überall Menschenmassen auf den Fluren, orientierungslos und mit den Schlangen vor uns hätte uns das den ganzen Tag gekostet. So verlasse ich das Sprechzimmer kurz nach 12 Uhr mit dem Befund „Nebenhodenentzündung“ (wohl verursacht durch die nicht ganz ausgeheilte Geschichte und verstärkt durch das tagelange Sitzen auf dem Motorrad) und einem Rezept für ein weiteres Antibiotikum. Ali stecke ich 10 TL zu, etwa den Tagesdurchschnittsverdienst der hiesigen Bevölkerung.

Mit dem Befund rufe ich meinen Schwager an, der Arzt ist. Nachdem uns seine Sprechstundenhilfe verbunden hat, meldet er sich mit bebender Stimme: „Hattet ihr einen Sturz?“, was wir zum Glück verneinen können. Er sieht die Sache etwas anders; nach Schilderung der Symptome und Untersuchungsergebnisse tippt er eher auf eine Reizung infolge der vorangegangenen Entzündung. Statt einem weiteren Paket Antibiotika soll ich lieber Ibuprofen zur Schmerzstillung und gegen die Reizung nehmen (und damit die Darmflora, die in dieser Gegend eh gefordert ist, schonen). Der Mahnung des Arztes, das Motorrad einige Zeit stehen zu lassen, kann ich aus naheliegenden Gründen nicht nachkommen, verspreche ihm aber, nach der nächsten Etappe eine längere Pause einzulegen.

Rendel hat mittlerweile Kemal in Çolpan am Van-See erreicht, Unterkunft ab morgen ist kein Problem.

Vor dem Abendessen laufen wir noch ein wenig durch die Stadt. Dabei trifft uns Krankenhaus-Omar, den wir diesmal abschütteln können. Wir gehen ins Restaurant des Hotels Büyük Kervansaray, das in dessen riesigem Innenhof untergebracht ist. Imposantes Ambiente: dicke Mauern, Steinbögen, Springbrunnen. Wir bestellen dasselbe Essen wie gestern, das hier nicht ganz so toll ausfällt, dafür gibt es offiziell Bier. Später kommt Livemusik dazu. Der Ober warnt uns, wir sollen auf dem Weg zum Hotel auf unsere Taschen aufpassen, da der Weg etwas dunkel ist. Interessant: Ali meinte gestern, Diyarbakır sei in der Hinsicht nicht gefährlicher als İstanbul – wozu aber sicher nicht viel gehört.

Wir haben uns entschlossen, die Moppeds diese Nacht in der Çayhane unterzustellen, doch da nicht abzusehen ist, wann die Feierabend macht, gehen wir das echte oder vermeintliche Risiko noch mal ein.

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Dienstag, 18.5., Diyarbakır–Çolpan (Van-See)

Fahrstrecke: 420 km/Fahrzeit: 6:20 h

Auch am nächsten Morgen fehlt nichts. Dank Ibuprofen und Ohrenstöpseln habe ich ganz gut geschlafen. Wir beladen die Moppeds, dabei läuft uns nochmal BBC-Ali über den Weg, erinnert uns daran, dass wir für den Fall der Fälle seine Telefonnummer haben. Wir checkenim Hotel Malkoç aus und finden schnell auf die Straße Richtung Silvan. Nach einigen Kilometern haben wir das großstädtische Gewusel hinter uns gelassen. Am Straßenrand liegt wie steif gefroren, alle Viere von sich gestreckt, der Kadaver eines sehr großen Hundes, für uns ein Memento mori – sowohl im Blick auf den Hund als auch für uns, die wir fast nichts mehr fürchten als die Begegnung mit so einem Tier bei voller Fahrt.

Wie bislang auf der gesamten Tour, hätte das Wetter nicht besser sein können. Auf den Fahrten als solchen meist wolkenloser bis leicht bewölkter Himmel, auch in den Städten recht erträglich. Das Thermometer zeigte in den letzten Tagen Mittagstemperaturen zwischen 22 (in den Höhenlagen > 1.800 Meter) und 32°C. Nach Silvan, in der Nähe des gleichnamigen Stausees, machen wir kurz Halt, schauen uns die imposante Malabadi-Brücke an, die den Batman-Fluss hier im Schatten der Staumauer überspannt. Ein junger Mann erklärt uns, dass sie noch aus der Ära der Artukiden, also aus dem 11. Jahrhundert, stammt. Dieses Geschlecht herrschte im 12./13. Jahrhundert unter anderem auch über Hasankeyf und Mardin. Die Gegend macht einen recht fruchtbaren Eindruck, wird dann aber von eher rauen, bergigen Abschnitten abgelöst.

Irgendwo bei Kosluk lässt mir meine Blase keine Ruhe. Immer darauf bedacht, ein geschütztes „Pieselplätzchen“ zu finden, halte ich am Straßenrand und begebe mich in den Graben. Das etwa 400 Meter entfernt auf einer Anhöhe gelegene Bauernhäuschen habe ich zwar bemerkt, fühle mich aber außerhalb anstößiger Sichtweite. Dann hören wir von dort Pfiffe und Rufe. Nachdem ich mich erleichtert habe, kommt ein junger Mann vom Bauernhaus her auf uns zugelaufen. Laut ruft er „Ayıp, ayıp!“ – jenes Wort, das Frauen, die sich in der Türkei bedrängt fühlen, rufen sollen, und das „Schande“ bedeutet. Der Mann, Anfang 20, macht einen leicht aggressiven, auf jeden Fall unfreundlichen Eindruck, zudem äußert Rendel später, dass er ihr geistig nicht ganz okay vorkam. An sie gewandt und mit Blick auf ihre kurzen Haare fragt er, ob sie überhaupt eine Frau sei. Trotz dieser Frechheit will ich die Situation entschärfen, bedeute ihm, dass ich mitnichten Schande bereiten wollte, entschuldige mich für diesen Fall. Das und die Vergewisserung, dass wir verheiratet sind, beruhigt ihn, ich biete ihm noch ein Zigarillo an. Mit einem etwas wirren Grinsen und einem überfesten Händedruck verabschiedet er sich von uns.

Nach dieser unerfreulichen Begegnung wenden wir uns wieder der Straße und den eher gewohnten Umgehensweisen zu: Immer wieder, von Jung und Alt, erreichen uns Signale des Willkommens und der Anerkennung. Seit Diyarbakır, wo wir kurz mit Grant, einem jungen Kanadier, der in Van Englisch unterrichtet, gesprochen hatten, sind uns keine Westler mehr untergekommen. Vermehrt kommen uns jetzt Reisebusse aus dem Iran entgegen, an einer Tankstelle erklärt man uns, dass es zumeist Pilgerreisende sind.

Die Strecke ab dort sind wir 2008 schon mal gefahren und sie ist uns als eine der schönsten überhaupt in Erinnerung. Der Vorstellung vom „wilden Kurdistan“ wird hier am ehesten entsprochen: enge Schluchten, hoch aufragende Berge, wilde Bäche und Flüsse. Natürlich bahnt sich auch hier moderne Infrastruktur ihren Weg, immer wieder kündigen Schilder mit „Bozuk satıh“ staubige Baustellenabschnitte an. Als Motorradreisender ist man hier doppelt gefordert – einerseits muss man verschärft auf die Straße achten, andererseits möchte man die Gegend nicht einfach an sich vorbeiziehen lassen. Wir halten einige Male an, um zumindest etwas davon im Bild und im Gedächtnis festzuhalten.

Die Durchfahrt durch Bitlis, die uns von 2008 als dieselrußgeschwängerte Etappe in Erinnerung war, geht diesmal ziemlich zügig, da nicht so viele LKW unterwegs sind.

Und dann ist es wieder so weit: Schon einige Kilometer vor Tatvan blitzt das unbeschreibliche Blau des Vansees am Horizont, außerdem erkennen wir den noch großflächig schneebedeckten Gipfel des Süphan Dağı. Der Berg zur Linken, der See zur Rechten sollen uns jetzt viele Kilometer begleiten.

Doch zunächst müssen wir noch einem der Hauptziele unsere Reise einen Besuch abstatten: den Lahmacun-Buden von Tatvan. Ob ein solcher Imbiss die weite Anfahrt lohnt? Rendel meint, ja. Zwar ist die diesjährige „türkische Pizza“ nicht ganz so gut belegt wie vor zwei Jahren, doch alleine dieser knusprige Boden … Während Rendel noch zu Ende isst, suche ich eine Bank, um Geld zu holen, 300 Meter sollen es sein. Okay, ich bin in den Motorradklamotten eh nassgeschwitzt.

Die Anfahrt nach Çolpan, wo unser kleines „Feriendorf“ liegt, wollen wir diesmal über das Nordufer machen (also im Uhrzeigersinn), denn das ist etwas kürzer und zudem kennen wir die Strecke noch nicht. Die durch die geografischen Gegebenheiten erzwungenen Streckenführungen sind völlig unterschiedlich: Während die „Südroute“ fast ständig mehr oder weniger hoch in den Bergen verläuft, geht es heute ununterbrochen direkt am Seeufer lang (das allerdings auch schon auf 1700 Metern liegt). Die Kombination der verschiedenen Elemente – links der 4500 Meter hohe Süphan Dağı, rechts das blaue Meer (muss man bei dieser Ausdehnung, etwa siebenmal so groß wie der Bodensee, ja schon sagen), dahinter rechter Hand die zu dieser Zeit noch schneebedeckte Bergkette – das ist schon eine Herausforderung für die Sinne.

Schlagartig werde ich aus meiner Landschaftsbetrachtung gerissen. Ich habe ein tiefes, scharfkantiges Schlagloch übersehen. Irgendetwas schleift und die Lenkung blockiert. Zum Glück ist es auf einem geraden Streckenabschnitt ohne Verkehr passiert. Die Schadensbegutachtung lässt folgenden Ablauf rekonstruieren: Durch das heftige Eintauchen der Gabel bis zum Anschlag wurde auch der Kotflügel nach oben gedrückt, wobei sich das hintere Ende zwischen Motorschutzwanne und Rahmenrohr verklemmte und so für die Lenkblockierung sorgte. Beim Ausfedern sorgte die Hebelwirkung dafür, dass das vordere Ende des Kotflügels nach unten auf den Reifen gedrückt wurde und ihn entsprechend blockierte. Die Reibung war so stark, dass ein Stück des Kotflügels geschmolzen ist. Die Schraublöcher der Kotflügelbefestigung sind ausgerissen, aber so, dass man sie noch nutzen kann. 10er-Schlüssel, nach fünf Minuten ist der Schaden zumindest technisch behoben, zu Hause muss ich mich nach einem neuen „Koti“ umschauen.

Insofern ist dieses Teilstück etwas tückisch. Die Straße ist zumeist recht gut, nur eben mit diesen bösen Schlaglöchern gespickt. In der Folge besteht zu solch arglistiger Täuschung kein Grund mehr. Der Großteil der Strecke am Nordufer ist eine einzige offensichtliche Baustelle. Je nach Fahrzeug und individuellem Fahrvermögen sucht sich jeder auf dieser zwanzig bis dreißig Meter breiten „Fahrbahn“ seinen Weg durch Geröll und Staub. Selbst die sonst eher verwegen agierenden iranischen Busfahrer und Trucker sehen sich zu Schleichtempo genötigt. Zuweilen ist der Staub so dicht, dass man sich in dichtem Nebel wähnt, Gelegenheit, einmal zu fotografieren, wie die charakteristischen Doppelscheinwerfer unserer Africa Twins in diesem Dunst auftauchen.

Bei Ercis, also an der äußersten Nordspitze des Sees, hat der Spuk ein Ende. Wir wollen noch einmal Sprit nachfassen, doch an der Tankstelle gibt es angeblich kein Benzin. Das Grinsen des jungen Tankwarts lässt mich am Wahrheitsgehalt seiner Aussage zweifeln, zumal es an der nächsten Tanke fünfhundert Meter weiter keine Probleme gibt.

Das Straßenschild, das den Weg Richtung Iran weist, bestätigt nochmal, wie weit wir hier im Osten sind. Tatsächlich ist die Grenze nur etwa 30 Kilometer Luftlinie entfernt, der nächste Übergang liegt jedoch etwas weiter nordöstlich bei Bazargan. In gut einer Viertelstunde müssten wir es geschafft haben. Dann taucht tatsächlich das weiße Schild auf, das besagt: „Çolpan 1 km“. Wer nicht sicher weiß, dass sich kurz nach dem Dorf die kleine Anlage von Dr. Kochs Club Natura verbirgt, der würde nie drauf kommen, zumal die letzten paar hundert Meter einer veritablen Endurostrecke ähneln. Bei einem Mädchen vergewissern wir uns nochmal mit der Frage „Aysel Koch nerede?“ – und dann sind wir da. Ahmed, der Verwalter, erwartet uns schon und erkennt uns wieder. Heute sind wir allein, können uns den Bungalow aussuchen, erst übermorgen wird eine Einzelreisende aus Deutschland erwartet, am Wochenende dann eine Gruppe, die alles belegen wird. So lange dürften wir also bleiben, wobei wir mit drei, vier Tagen planen. Weil hier zu 95% Gruppen landen, die zumeist am Flughafen Van abgeholt werden, ist eine bessere Ausschilderung und Zuwegung nicht nötig.

Glücklich, am Ort unserer Träume angelangt zu sein, vereinbaren wir die Essenszeit, richten uns etwas ein, duschen und begeben uns dann in den Speise- und Gemeinschaftsraum. Das Essen lässt noch auf sich warten, ist dafür jedoch extra für uns frisch zubereitet. Ahmeds junge Frau, die für die Gäste kocht, lässt sich die ganze Zeit nicht sehen, wir können nur erkennen, wie sie im Nachbargebäude in der Küche wuselt. Anerkennend will ich ihr noch etwas sagen, rufe ihr durch das Fliegengitter zu: „Her şey çok lezzetli!“ – „Alles ganz köstlich!“ Sie ist darauf regelrecht geschockt, lässt alles liegen und zieht sich einen Moment zurück. Wahrscheinlich muss man selbst hier, wo sie zumindest ein wenig an Touristen gewöhnt sind, noch etwas mehr Zurückhaltung üben. Wir lernen noch!

Selbst im Sommer kann es hier, auf 1700 Metern, abends, dann, wenn die Sonne weg ist, kühl werden. So halten wir es auch nicht mehr lange auf unserer kleinen Terrasse direkt am Ufer aus und gehen rein. Ein klein wenig ist das Hochgefühl eh getrübt (aber wirklich nur ein klein wenig), da sie im Moment keinen Wein haben – dabei gibt es fast keinen angemesseneren Ort für einen solchen Genuss.

Ziemlich erschossen, aber überglücklich, lassen wir uns ins Bett fallen. Ein kurzer SMS-Check (WLAN ist hier komplett Fehlanzeige) ergibt noch, dass eines der Paare, von denen wir wissen, dass sie sich auf dem Weg befinden, gerade in Aleppo/Syrien eingetroffen sind, das Recklinghäuser Paar, das wir gar nicht kennen, dessen BMW wir nur bei der Spedition gesehen und denen wir einen Zettel mit Handynummer hinterlassen haben, hat sich erst in Griechenland rumgetrieben und ist jetzt in İstanbul.

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Mittwoch, 19.5., Çolpan (Van-See)

Es gibt verschiedene Arten von Stille – bedrückende und solche, die beruhigend, ja fast tröstend wirkt. Letztere umgibt uns an diesem ersten Morgen in Çolpan. Alles still, nur ab und zu ein Zwitschern oder Gackern, gerade so, um einem zu vergewissern, dass man selbst und die Welt um einen noch lebt. Entsprechend gut haben wir geschlafen. Doch in diese Stille mischt sich noch ein weiteres, eher beunruhigendes Geräusch, etwas Stakkatohaftes, das eigentlich nicht in diese Gegend zu passen scheint. Eigentlich. Um es kurz zu machen: Es regnet. Gut, das darf es, wirklich erwartet haben wir es nicht. Doch da heute eh Ruhe angesagt ist, kann uns Regen auch nicht hindern. Zwölf Grad zeigt das Thermometer, der Himmel durchgängig grau. Doch wie es „an der See“ eben so ist, kann das schnell wieder umschlagen. Tatsächlich tun sich schon bald blaue Fleckchen auf, allerdings weht ein scharfer Wind.

Beim Frühstück lernen wir Kemal kennen. Er ist der Opa des Hauses, ganz typisch ostanatolischer Senior mit Stoffhose, abgewetztem Sakko und Kappe. Er hat uns das Frühstück serviert und setzt sich zu uns. Wir tauschen ein paar Nettigkeiten aus, und er muss lachen, als ich als Herkunftsort für die Aprikosen der Marmelade Malatya benennen kann.

Ich lade die bisher aufgezeichneten Tracks auf den Computer und wir schauen uns an, was wir bislang geschafft haben – gut 2500 km.

Am Nachmittag klart es vollends auf, der Wind bleibt zunächst, meist legt er sich erst gegen Abend. Rendel wäscht, wir lesen und planen den morgigen Tag. Über Van soll es die 150 Kilometer zum Hoşap Kalesi gehen, eine alte, angeblich sehr imposante Kurdenburg; da wir über Van müssen, könnte auch noch eine Besichtigung der dortigen Urartäer-Festung drinsitzen. Auf dem Rückweg wollen wir in Van noch Wein kaufen. (Van ist das alte Tuschpa, früher die Hauptstadt des Reichs von Urartu, woher, nach falscher Vokalisierung, eigentlich der Name „Ararat“ kommt.)

Wir stiefeln ein wenig den hinter den Bungalows gelegenen Hang hinauf. Von dort hat man einen guten Rundumblick. Begleitet werden wir von Karabaş, dem etwas verwahrlosten, aber freundlichen Hofhund.

Zwei junge türkische Paare aus İstanbul, die mit dem Auto eine Rundtour machen, quartieren sich neben uns ein. So langsam scheint die Saison auch hier loszugehen.

Um der Menschen und ihrer Lebensbedingungen willen würde man dieser Gegend mehr Besucher wünschen. Aber mit etwas Individualtourismus allein ist ihnen wohl auch nicht zu helfen. So ergeben wir uns willig in unser Schicksal, die Schönheiten hier fürs Erste mit nur wenigen anderen teilen zu müssen.

Mittlerweile ist Rendel auch hinter die hiesigen Verwandtschaftsverhältnisse gekommen – okay, zumindest in groben Zügen: Ahmed, der, welcher uns zunächst willkommen hieß, ist der Sohn von „Opa Kemal“. Ahmed hat vier jüngere und vier ältere Geschwister, seine Frau, die ich gestern so erschreckt habe, hat elf Geschwister, das jüngste noch ein Säugling. Kein Wunder, dass irgendwann in der Familie geheiratet wird. (Wobei uns ein kosovarischer Freund – dort gibt es ja auch große Familien und Sippen – einmal sagte, dass sie sich dort ganz bewusst ihren Partner möglichst aus einem anderen Dorf suchen, abgesehen davon, dass inzestuöse Beziehungen dort natürlich eh verboten sind.)

Mittlerweile ist das Wetter wie am Vorabend, sprich: warme Abendsonne, die wir ausgiebig genießen (ein Genuss, den ein Anruf bei meiner Mutter noch verstärkt – es sei nach wie vor „sehr schebbich“. Oooch!)

Beim Abendessen kommen wir mit den Türken ins Gespräch. Zwei junge Ehepaare, eine Frau Englischlehrerin, die andere arbeitet in einer Bank, während die beiden Männer technische Berufe haben. Die Dame aus der Bank bekommt von mir den Spitznamen „Heidi“ – lange, blonde, zu Zöpfen geflochtene Haare, wahrscheinlich typisch türkisch. Als Ausgleich zu ihrem langweiligen Bankjob hat sie sich einen Namen als Kuchenbäckerin gemacht – für jeden Anlass eine besondere Kreation, auf einer eigenen Homepage wirbt sie dafür. Rendel bleibt noch ein wenig bei ihnen sitzen, ich gehe früh schlafen. Gegen halb zwölf werde ich wach, wieder mit Schmerzen. Heute Abend habe ich bewusst keine Schmerztablette genommen. Langsam mach ich mir Sorgen, auch wegen der Schwellung. Rendel ist noch wach, ich spreche sie an. Wir vereinbaren, den morgigen Ausflug zugunsten von Schonung ausfallen zu lassen und neu zu planen.

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Donnerstag, 20.5., Çolpan (Van-See)

Elf Stunden müssen reichen! Die Sonne scheint durchs Fenster, könnte ein perfekter Tag werden, zumal ich fast ohne Schmerzen aufgewacht bin! Die Türken sind schon zu ihrem Ausflug aufgebrochen. Nach dem Frühstück greife ich erstmals in diesem Urlaub – abgesehen von Reiseführern – zu einem Buch. Könnte gute Anregungen für eine Predigtreihe bieten. Rendel liest auch, wäscht, die direkt vor unseren Füßen pickenden und schnatternden Hühner und Gänse, dazu der umherstolzierende Truthahn und die Kühe, die am Nachmittag durch Fenster schauen, lassen uns an „Ferien auf dem Bauernhof“ denken. Rendel behauptet, heute sei Mittwoch – falsch, aber ein gutes Zeichen (nicht im Blick auf ihre Demenz, sondern hinsichtlich des Entspannungsgrades).

Es bedurfte nicht viel Einigungswillens, für die nächsten Tage diesen Ablauf vorzusehen: über Van zum Hoşap Kalesi – ca. 150 Kilometer, dann südlich von Van, entweder in Edremit oder – noch besser – in Gevaş, eine Unterkunft suchen. Letzteres liegt nämlich gegenüber der Ahtamar-Insel, die wir dann auch noch besuchen könnten. Am nächsten Tag dann die 380 Kilometer nach Savur – in der Hoffnung, dass auch sie ein Zimmer haben.

Während Rendel sich ins kalte Wasser traut und dann ein Sonnenbad am Strand nimmt, begrüße ich einen neuen Gast – Türkei-Forum-Userin „Lila“, die sich per Fax angekündigt hatte. Als ich mich vorstelle, meint sie: „Ich weiß!“ Tatsächlich hatten wir vor Wochen im Forum Kontakt und ich hatte ihr Çolpan empfohlen. Da ist die Freude natürlich groß, wenn die Empfehlung dann auch noch zu passen scheint. Lila hat auch unsere Reiseberichte gelesen, besonders das Bonmot: „Hier gibt’s ja auch nix zu sehen!“ ist ihr im Gedächtnis geblieben. Wir können ja schon nicht klagen, aber sie hat sieben Wochen zur Verfügung. Sie kommt aus Berlin und arbeitet dort mit behinderten Menschen. Lila erweist sich als überaus freundlich und aufgeschlossen – interessant, Menschen, die man bislang nur aus Foren oder von E-Mails kannte, dann auch persönlich zu treffen.

Ahmeds 18-jährige Schwester ist, anders als ihre Schwägerin, erstaunlich zugänglich; von sich aus kommt sie auf uns zu, zeigt uns ihr Kätzchen und versucht, mit uns etwas ins Gespräch zu kommen. Zumindest hat sie die fünfjährige obligatorische Schulpflicht absolviert, fällt also nicht mehr unter die hohe Zahl analphabetischer Frauen hier im Osten. Ihre Mutter hingegen, so erzählt sie, spricht praktisch kein Türkisch, was nahelegt, dass sie auch keine Schule besucht hat.

Vor dem Abendessen schnapp ich mir noch den ipod, setze mich auf die Bank vor der Küche und höre ein wenig Oldies. In der Küche läuft laut kurdische Musik. Durchs Fenster kann ich sehen, wir Ahmeds Frau „mitswingt“ – und ein paar Takte lang hat es den Anschein, als ob sie sich zu Creedance Clearwater Revival’s „Looking Out My Backdoor“, das gerade bei mir läuft, bewegt. Vielleicht liegen unsere Kulturen doch näher beieinander, als wir meinen …

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Freitag, 21.5., Çolpan (Van-See)

Wer es nötig hat und meint, es aushalten zu können, der sollte sich ein paar Tage hier in Çolpan einquartieren (und sich dabei hinsichtlich der Mitnahme elektronischer Ablenkung Zurückhaltung auferlegen). Wie nur wenige Orte eignet sich dieser buchstäblich zum Abschalten und zu einer Form von heilsamem Müßiggang. Wenn man zum x-ten Male zwischen Bungalow und Aufenthaltsraum hin und her geschlendert ist, stundenlang den Enten mit ihren Küken beim Fressen zugeschaut und sich über den einzelnen Truthahn amüsiert hat, der einer der Enten nicht von der Seite weicht, und die Weite der Landschaft auf sich hat wirken lassen, dann stellt sich irgendwann eine Art „Flow“ ein, ein Wohlgefühl, das man meint, schon gar nicht mehr gekannt zu haben, und das man am liebsten festhalten möchte. Obwohl wir keinen Grund haben müde zu sein, schlafen wir ohne Mühe zehn bis elf Stunden – und das tief und fest. Der Rhythmus wird nur von der Natur (und allenfalls noch von den Essenszeiten) vorgegeben. Die Menschen hier haben sicher ihre ganz eigenen, uns fremden existenziellen Herausforderungen – Stress und Hektik gehören aber gewiss nicht dazu.

Auf diese Weise genießen auch wir unseren letzten „day off“ hier. Von Nordwest bläst heute ein kühler Wind, der sich sicher am Abend wieder legt.

Während ich ein wenig Schlaf nachhole …, macht Rendel einen Zug durch die Gemeinde. Im Dorf trifft sie drei Frauen, die Schafwolle zupfen, diese dann in Kissenbezüge stopfen, die dann wiederum vernäht werden. Gerne lassen sie sich dabei fotografieren – mit der Bitte, ihnen die Bilder zuzuschicken. Zwei kleine Jungs hingegen, um die vier Jahre, denen sich Rendel nähert, bekommen es dann aber wohl doch mit der Angst zu tun und geben Fersengeld. Ein anderer, älterer Junge begrüßt sie ausgesucht höflich mit „Merhaba, abi!“, „Guten Tag, großer Bruder“ – einer freundschaftlich-respektvollen Anrede –, um sich dann, nach genauerem Hinsehen, zu verbessern: „Merhaba, abla!“

Der Himmel ist weiter bewölkt mit nur zeitweiligen Lücken, der Wind bläst weiter frisch. Hauptsache, morgen ist es trocken, denn es soll ja weitergehen, zudem stünde, wegen der erwarteten Reisegruppe, spätestens Sonntag eh die Zwangsräumung unseres Zimmers an.

Nach dem Abendessen sitzen wir noch mit Lila und den İstanbulern zusammen. Interessant, dass sich die beiden jungen türkischen Frauen hier im Osten dieselbe Zurückhaltung im Umgang mit dem anderen Geschlecht auferlegen wie etwa Rendel.

Als unser Gespräch mal kurz stockt, erzählen sie uns, dass man so einen Moment des Schweigens in der Türkei mit „Ein Mädchen ist geboren“ bezeichnet – im Gegensatz zum Jubel, wenn es ein Junge ist …

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Samstag, 22.5., Çolpan–Hoşap Kalesi–Gevaş

Fahrstrecke: 208 km/Fahrzeit: 3:20 h

In der Nacht hat es kräftig gewittert. Mit einem imaginären Wettpartner wette ich, dass es am nächsten Morgen trotzdem schön sein wird. Tatsächlich ist der Himmel überwiegend blau und der Wind hat auf Südost gedreht, damit ist er nicht mehr so kalt. Nach dem Frühstück und nachdem wir gezahlt haben (TL 100 pro Tag mit HP), verabschieden wir uns von Lila, die noch ein paar Fotos von uns in Montur macht. Ziel des heutigen Tages soll Gevaş sein, das Städtchen gegenüber der Akdamar-(Achtamar-)Insel. Auf dem Weg wollen wir aber noch einen Abstecher zur Burg Hoşap machen, die östlich von Van liegt. Die Strecke bis Van ist in der schönen Morgenluft – um die 21°C – angenehm zu fahren. Irgendwo am Stadtrand von Van verlieren wir die Richtung. Über staubige Erdstraßen werden wir kreuz und quer durch die arme Wohngegend geschickt, ein Mann will uns mitten über einen Innenhof lotsen, durch dessen Tor wir mit unseren Motorradkoffern aber nicht passen. Endlich scheinen wir den Weg gefunden zu haben, als uns eine Baustelle den Weg versperrt. Die Arbeiter haben ein Einsehen und heben das Absperrband an, damit wir die Richtung halten können, mit unseren Enduros ist die Baustelle kein Hindernis. Schließlich ein Vorwegweiser, der bestätigt, dass wir richtig sind. Die folgende Strecke entschädigt dann wieder für Vieles. Wir fahren zwischen schneebedeckten Drei- bis Viertausendern, die Kurubaş-Passhöhe wird mit 2285 Metern angegeben. Auch hier wechseln sich passable Straßen mit langen Schotterpisten ab. Neben dem Staub macht ein starker Wind das Fahren beschwerlich.

Kurz nach dem sich lang hinziehenden Zernek-Stausee sehen wir linker Hand die alte Kurdenfestung, imposant inmitten des trostlosen Fleckens Güzelsu gelegen. Vor einem Teehaus sehen wir zwei Motorräder mit holländischem Kennzeichen stehen, eine davon eine Africa Twin. Als wir halten, kommt einer der Fahrer raus und begrüßt uns. Sie wollen von hier weiter in den Iran. Er weist uns darauf hin, dass das Innere der Festung wegen Renovierung geschlossen sei. Rendel lässt ihr Mopped stehen und wir fahren auf meinem den Burgberg hoch, dabei passieren wir eine Gruppe Kinder. Ein vielleicht Sechsjähriger schaut uns aggressiv an und schleudert mir seinen Ball mitten an den Kopf. Ich stoppe, schnauze ihn an und tue so, als wolle ich ihm nachsetzen, woraufhin er das Weite sucht.

Als ich das Motorrad vor dem Eingangsportal abstellen will, wird es vom Wind fast umgeworfen. Der Wärter öffnet uns trotz Sperrung das Tor und lässt uns einen Blick hineinwerfen. Die Festung könnte leicht als Handlungsort für eine „Mad Max“- oder „Star Wars“-Episode gedient haben. Wir machen uns auf den Rückweg, wobei mich die Migräne erwischt, und das zudem an einem extrem stürmischen und staubigen Ort. Nach einer Viertelstunde setzen wir die Fahrt fort.

Ich muss noch länger an den Ort Güzelsu – „schönes Wasser“ – denken. Irgendwie hat er eher etwas von trostlosem Truckstop und Schmugglernest.

Wir wissen nicht, ob es in Gevaş eine Unterkunft gibt, der Reiseführer gibt dazu nichts her. Zwischen Hauptstraße und See finden wir einen Bau, dessen Schild ihn zumindest als Hotel ausweist. Davor stehen zwei Wohnmobile, eines aus Kufstein in Österreich und eins aus Holland. Der Inhaber sagt, er hätte ein Zimmer. Das Hotel ist das Schäbigste, das ich je bewohnt habe. Eingangshalle und Treppenhaus sehen aus, als sei das Haus seit Jahrzehnten verlassen. Wir bekommen ein riesiges Zimmer mit drei Betten, zugegeben recht sauber, einem Minischrank und einem Heizlüfter, auf dem Boden lose ausgerollter Teppichboden. Aber auch die Bettwäsche scheint sauber zu sein, zu den sanitären Anlagen hingegen äußere ich mich nicht.

Die Kufsteiner, die in Doğubayazıt einen Schaden an ihrem Auto hatten (man hatte ihnen hochgradig mit Wasser gepanschten Diesel verkauft), legen hier eine Zwangspause ein, da sie noch auf ein Ersatzteil warten müssen. Uns können sie insofern Trost spenden, als sie uns sagen, dass es in der Nähe ein gutes Frühstückslokal mit dem legendären „Van-Frühstück“ gebe.

Auf meinem Motorrad fahren wir zum nächsten Anleger und nehmen die Fähre zur Akdamar-Insel. Die dortige Heilig-Kreuz-Kirche gehört neben Kappadokien, dem İşak Paşa Saray und dem Strand von Ölü Deniz zu den meist abgebildeten Türkei-Motiven. Dort tummeln sich viele, zumeist türkische Touristen und auch eine Studiosus-Reisegruppe, der wir uns kurzzeitig für ein paar Erläuterungen anschließen. Dieses armenische Sakralbauwerk ist wirklich einmalig, insbesondere durch die die ganze Fassade umgebenden Steinmetzarbeiten – Reliefs, die biblische Szenen, Heilige, selbst einen muslimischen Großwesir, der den Christen dort Schutz gewährte, abbilden, zudem Fantasieszenen wie ringende Männer und Trauben fressende Bären. Zu früheren Zeiten sollen die Reliefs farbig bemalt, die Augen der abgebildeten Heiligen etc. zudem durch Edelsteine ausgeschmückt worden sein. Das Innere der Kirche ist komplett mit Fresken ausgemalt, die zum Großteil noch heute gut zu erkennen sind und die vormalige Pracht erahnen lassen – und beredt Zeugnis dafür ablegen, dass das hier einmal christliches Kernland war. (Die Anlage, die früher auch ein Kloster und einen Palast umfasste, wurde Anfang des 10. Jahrhunderts durch den armenischen König Gagik errichtet.)

Wir trinken noch ein paar Tee, bevor wir uns wieder an Land bringen lassen. Auf dem Rückweg zum „Hotel“ stoppen wir kurz an dem Frühstückslokal, das sich zu unserer Freude als richtiges Restaurant entpuppt.

Wir trauen uns unter die Dusche, Rendel schwätzt ein wenig mit den Holländern, Rentner, seit sieben Wochen unterwegs, Ende offen. Zudem stellt sich heraus, dass die holländischen Motorradfahrer, die wir am Hoşap Kalesi getroffen hatten, auch hier genächtigt haben (und bei TL 40 für zwei Personen kann man ja auch nicht meckern, wiewohl da weder Frühstück noch Handtücher mit drin sind).

Ein Anruf in Savur hat ergeben, dass sie ein Zimmer frei haben, also Grund, uns auf morgen zu freuen. Auch das Abendessen ist ganz okay, wiewohl nicht ganz billig. Wir nehmen an, dass das Restaurant auch von Busgruppen angesteuert wird, denn die Karte ist in Euro und Dollar ausgezeichnet. Dass neben „Kavaklıdere Yakut“, einem durchschnittlichen Rotwein, „€ 30“ steht, lässt mich für diesen Abend zum Abstinenzler werden.

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Sonntag, 23.5., Gevaş–Batman–Hasankeyf–Savur

Fahrstrecke: 400 km/Fahrzeit: 6:30 h

Erst das Vieh, dann der Bauer. Entsprechend lasse ich unseren braven Lasttieren noch vor dem Frühstück eine Portion Öl zukommen. In der Nacht hat es kräftig geregnet, aber am Morgen ist alles schon wieder abgetrocknet. Wir begeben uns in das Lokal und ordern das Van-Frühstück, das wir als einzige Gäste am Strand einnehmen wollen – noch etwas frisch, aber schön. Das Frühstück ist tatsächlich sehr umfangreich, vielleicht etwas käselastig, dafür keine Marmeladen. Der Van-Käse mit vielen Kräutern hat uns in Çolpan in der Schafsvariante gut gemundet, in der Version von der Ziege ist er für uns nur schwer genießbar. Eine weitere Spezialität ist Kavut … doch dazu später mehr.

Danach rödeln wir schnell auf, denn in den Bergen ballen sich Wolken, die Regen erwarten lassen. Bei frischen 21°C starten wir. Die Strecke am Ostufer entlang geht zum Teil in bis über 2000 Meter Höhe. Von Anfang an haben wir mit starkem Wind und heftigen Böen zu kämpfen. Auch hier bestimmen über weite Strecken Baustraßen das Bild, entsprechend heißt es wieder Staub schlucken. Für hundert Kilometer werden wir schließlich zwei Stunden gebraucht haben, trotzdem ist die Strecke ein Traum – viele enge Kurven, dicht vorbei an zum Teil noch schneebedeckten Bergen, ein Pass liegt auf 2200 Metern, schließlich fällt es wieder ab, mäandernde Gebirgsbäche, die durch gelb blühende Wiesen fließen, bilden bei Tatvan den Abschluss. Doch auch hier zeigt der Höhenmesser noch gut 1700 Meter, eben die Höhe des Seespiegels.

Die Durchfahrt durch Bitlis bietet diesmal das „gewohnte“ Bild: Ein LKW hinter dem anderen quält sich – zum Glück in Gegenrichtung, was inmitten von Bitlis aber auch nicht viel Unterschied macht – durch den Ort. Kurz drauf, wieder oder immer noch von schroffen Felsen flankiert, die obligatorische Pipi- und Nachfüllpause. Ein BMW-GS-Fahrer mit Hamburger Kennzeichen rauscht winkend Richtung Osten vorbei. Das wird mir wohl zu Hause fehlen, das Winken, Grüßen, die nach oben weisenden Daumen, Gesten, die uns auch hier noch viele Male am Tag begegnen.

Anstatt erst kurz vor Silvan Richtung Batman abzubiegen, nehmen wir schon bei Ziyaret den Abzweig nach Siirt. Alle diese Städte, die zumeist auch die Hauptstädte der gleichnamigen Provinzen sind, gelten in den Hinweisen des Auswärtigen Amtes als Zentren von „Unruheprovinzen“. Diese Unruhe muss sich zum Teil wohl gelegt haben, denn wir sehen kaum Kontrollposten, auch werden wir, wie auf der gesamten Tour, nicht einmal nach unseren Pässen gefragt. (Obwohl wir noch am Abend erfahren werden, dass es vor vier Tagen bei Van zu einem schweren Anschlag gekommen ist und sich die PKK wohl wieder verstärkt regt.)

Auf dieser Strecke können wir endlich mal wieder Gas geben, wiewohl sie dafür fast zu schön ist. Jetzt sind die braun-beigen Bergketten in die Ferne gerückt, dazwischen weites, offenes Land mit intensiver landwirtschaftlicher Nutzung. Tankstopp, Visiere putzen. Schon seit Tagen kleben kaum mehr Insekten daran, vielmehr ist jetzt alles mit Staub überzogen. Dazu der obligatorische Tee mit Smalltalk – kaum erwähnenswert, aber eigentlich immer noch etwas Besonderes.

Rund um Batman haben sich – es ist Sonntag – die „Batmans“ zum türkischen Volkssport gesammelt. Wo immer sich am Straßenrand ein schattiges Plätzchen findet, rauchen die Grills und Samoware, um die notwendigen Picknickgenüsse zu liefern. Zum Glück müssen wir nicht mitten durch Batman, werden an der Peripherie entlang geführt. Schon weist ein Schild den Weg nach Hasankeyf, wo wir „zwangsläufig“ vorbei müssen, das wir aber eh nochmal hätten aufsuchen wollen. An einer großen Kreuzung, die zu Straßenarbeiten völlig aufgerissen ist, kann ich ausnahmsweise eine Gruppe Türken auf ihren Supersportlern verblasen – dafür sind unsere Africa Twins eben doch besser geeignet. Leider verliere ich im Staub die Orientierung, fahre also einfach Richtung Süden. Nachdem ich mir noch eine Zeitlang eingeredet habe, dass wir wohl richtig sind, ist dann doch unübersehbar, dass das nicht mehr der direkte Weg nach Hasankeyf sein kann.

Wir passieren ein großes eingezäuntes Gelände, wirkt militärisch. Ich spreche eine Gruppe von Männern an und frage nach dem Weg. Mit ausladenden Handbewegungen weisen sie den Weg zurück, eine Aktion, die ich nicht einsehen will, da unsere Richtung laut GPS zumindest grundsätzlich stimmt. Als Rendel ihren Helm abnimmt, entfährt einem der Männer ein erstauntes „Bayan!“ – „Eine Frau!“, worauf er selbst laut lachen muss. Unter Feixen und Applaus seiner Kollegen bietet sich ein anderer Mann an, bei mir aufzusteigen und uns den Weg zu zeigen – und zwar geradeaus! Es stellt sich heraus, dass wir mitten in den Ölfeldern von Batman gelandet sind, dort, wo praktisch alle eigenen Ölvorkommen der Türkei gefördert werden. Mein Sozius gehört zur Sicherheitsmannschaft der Ölgesellschaft. So fahren wir, immer dirigiert durch meinen Hintermann, kilometerlang vorbei an den monoton nickenden Ölpumpen. Laut rufend versuche ich mich mit meinem Mitfahrer zu unterhalten, assistiert von Rendel, die zum Teil über Funk mithören kann. Schließlich meint er, uns alleine weiterfahren lassen zu können. Zumindest hat uns der etwa zwanzig Kilometer lange Umweg durch eine Gegend geführt, in die sonst mit Sicherheit nie ein Tourist findet.

Und noch ein Gutes bringt die Verfahrerei mit sich: Wir werden über eine Strecke Richtung Hasankeyf geführt, die – erraten – schöner nicht sein könnte. Schon früh sichten wir den Tigris, dessen Name für mich immer noch einen mystischen Klang hat. Schließlich sind wir auf dem Teilstück, das wir schon vor zwei Jahren Richtung Norden befahren haben. Wer einen Ausflug nach Hasankeyf plant (meist ja als Abstecher von Midyat oder Mardin) und nicht eh weiter Richtung Norden fährt, der sollte sich auf jeden Fall noch zehn, fünfzehn Kilometer den Tigris entlang gönnen, zu schön windet er sich durch die Landschaft, immer vorbei an den golden erglühenden Steilhängen. Auch hier und in Hasankeyf selbst bestimmen türkische Sonntagsausflügler das Bild. Wir stoppen heute nur ein paar Minuten an dem Aussichtspunkt kurz vor der neuen Brücke, genießen den Anblick und machen ein paar Fotos. Die Festung besichtigt haben wir ja schon vor zwei Jahren, wobei man aber auch einen längeren Aufenthalt erwägen könnte, denn auch rund um die Burg gibt es noch jede Menge zu sehen.

Savur, unser heutiges Ziel, wollen wir von Norden her ansteuern, also nicht wie im Vorjahr über Mardin. So halten wir uns bei Gerçüs Richtung Westen, noch sechzig Kilometer liegen vor uns. Nach etwa der Hälfte bekommt die Landschaft wieder diese Ausprägung, die sich am besten mit „lieblich“ beschreiben lässt: Endgültig haben wir das zum Teil sehr Schroffe der letzten Tage hinter uns gelassen, es wird zunehmend grün, Wiesen, Pappeln, Kornfelder, frisch gepflügte Äcker mit tief rotbrauner Erde, die auf eine fruchtbare Gegend schließen lässt. Einmal müssen wir noch fragen, dann versichert uns auch ein Wegweiser: „Savur 20 km“. Obwohl der Ort ziemlich verwinkelt ist, finden wir den Weg zum Haçı Abdullah Bey Konağı schnell. An der Auffahrt treffen wir Aydın, der, zusammen mit seinen beiden Schwägerinnen und seiner alten Mutter, den Laden schmeißt. Mich erkennt er gleich, Rendel erst auf den zweiten Blick, dafür steht den Frauen das Entzücken ins Gesicht geschrieben, Rendel wiederzusehen. Selbst Oma – Typ „raue Schale, ganz weicher Kern“ – küsst sie zur Begrüßung. Besonders, so sagen sie uns später, hätten sie unser Lachen und Rendels schöne Augen in Erinnerung behalten. Neben der Familie teilen wir den Konak bis morgen mit drei weiteren Ehepaaren – einem holländischen mit einem Haus in Çeşme, einem kanadischen und einem älteren deutschen Paar – sowie mit einem Briten. Wenn wir wollen, können wir morgen umziehen, das Zimmer gefällt uns jedoch so gut, dass wir es gerne behalten.

Erschöpft lassen wir uns auf die dicken Sitzkissen fallen, um uns dann aber (wir erinnern uns: im haman-gleichen Gemeinschaftsbad) den Staub des Tages abzuduschen. Vor dem Abendessen gönnen wir uns den Augen-Blick, den wir so lange ersehnt haben: den Blick über Savur von der Dachterrasse. Dabei machen wir uns mit den Kanadiern bekannt. Es ist ihr erster Türkeiaufenthalt, und sie sind rundweg begeistert. Beim gemeinsamen Abendessen sitze ich neben dem „älteren“ deutschen Paar. Zunächst machen sie auf mich einen wenig aufgeschlossenen Eindruck, wirken für hier etwas „zu fein“ und damit irgendwie fehl am Platz. Wie so mancher Eindruck täuschen kann. Zunächst sind die beiden nicht „älter“. Er ist 87, sie 77! Und: Sie haben sich nicht irgendwie nach hier verirrt, vielmehr reisen die beiden individuell und auf sich allein gestellt mit öffentlichen Verkehrsmitteln als Backpacker durch die Weltgeschichte. Respekt und: Pardon, Madame!

Bei dem guten Wein, den ich schon im Vorjahr schätzen gelernt habe und den Aydın bei Freunden aus der Gruppe der Süryani, also den syrisch-orthodoxen Christen hier aus der Gegend, bezieht, beschließen wir den Abend auf dem Dach. Ich frage den Holländer, der mit seiner Frau den Großteil des Jahres in seinem Haus in Çeşme verbringt, ob er schon in Rente sei. Er verneint, erzählt, dass er „in besseren Zeiten“ einiges an Immobilien in Holland erwerben konnte, von deren Erträgen sie jetzt schon seit über zehn Jahren leben können. Apropos: Schon wiederholt wurde ich auf dieser Tour angesprochen, ob ich schon in Rente sei. Die Frager scheinen die Wohltaten unseres Rentensystems wohl massiv zu überschätzen. Oder sehe ich wirklich schon so alt aus?

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Montag, 24.5. Savur

„Savur. Ach ja, Savur …“ – Mit diesem Seufzer und der Hoffnung, dass dieser Ort seinen Charakter noch lange wird bewahren können, setzt ein Reiseführer mit seiner Beschreibung an. Dieses Landstädtchen mit seinen knapp 10.000 Einwohnern gilt als Miniaturausgabe des benachbarten Mardin, wobei Kenner Savur eine noch größere Authentizität bescheinigen. Beiden gemein ist die typische Architektur, am augenfälligsten der im Sonnenlicht honigfarben leuchtende Sandstein. Die Häuser gruppieren sich um einen kegelförmigen Hügel, wobei natürlich auch hier etliche Bausünden auszumachen sind, etwa, wenn an einen typischen alten Konak ein Anbau aus schnödem grauen Beton geklebt wurde (und ohne die unzähligen Satellitenschüsseln würde sich das Ganze auch noch besser machen). Aber es ist ein ausnehmend schönes Städtchen, das bislang zudem von jeglichen touristischen Auffälligkeiten verschont wurde.

Am Nachmittag unterhält sich Rendel noch ein wenig mit dem Friseur, bei dem ich morgens einen Verschönerungsversuch unternommen habe. Er erzählt, dass er ursprünglich aus Mersin, der südtürkischen Großstadt, stamme. Nachdem er eine Familie gegründet hatte, musste er zusehen, wie er über die Runden kommt. Das Leben hier in Savur sei wesentlich billiger, so betrüge die Miete für einen Friseurladen in Mersin leicht das Zwanzigfache. Auch bestätigt er, was wir schon eher gehört hatten, dass das Zusammenleben von Türken, Kurden, Arabern und den christlichen Süryani relativ problemlos laufen würde, in Mardin befänden sich eine Kirche und eine Moschee Wand an Wand, ohne dass der eine am anderen Anstoß nehmen würde. (Wiewohl die erhofften Rückübertragungen von Grundstücken an ihre vormaligen christlichen Besitzer hier immer wieder die Emotionen hochkochen lässt.)

Während ich noch ein wenig die auf unserm Zimmerboden ausgerollten Betten teste, bekommt Rendel Kochunterricht, die Frauen zeigen ihr, wie man İcli Köfte zubereitet. Die Hackfleischbällchen bekommen dabei eine Hülle aus einer Teig-Fleisch-Mischung, wobei die Fertigung und Füllung der Hülle besonderes Geschick erfordert. Es gibt verschiedene Rezepte, hier machen sie den Teig für die Hülle aus zwei Sorten Bulgur, Gewürzen und etwas ganz fein geschnittenem, magerem Fleisch. Das Ganze wird lange geknetet, dann aus kleinen Portionen eine Art „Eierbecher“ geformt, dort hinein kommt dann die Füllung aus angebratenem Hack mit Zwiebeln und Gewürzen. Schließlich werden die Eierbecher geschlossen, schön rund gerollt und dann frittiert. (Alternativ kann man sie auch in Wasser gar ziehen lassen, auch Varianten mit einer süßen Hülle haben wir schon probiert.) Da wir hier so großartig umsorgt werden, nehmen wir an, dass es den Frauen viel Spaß macht zu kochen, doch geben sie zu, dass sie nicht immer gern so lange in der Küche stehen.

Wir haben nicht den Eindruck, in einer ausgesprochen konservativen Familie zu sein, doch erzählen die beiden Rendel, dass auch sie schon mit vierzehn, fünfzehn geheiratet haben (wobei sie aber auch mittlerweile schon Ende dreißig und Mitte vierzig sind, die Verheiratung also schon etwas zurückliegt). Die Oma versucht zwischenzeitig, Rendel etwas Arabisch beizubringen; sie gehört zu denen, denen Türkisch ein Leben lang fremd blieb. Diese Zuwendung seitens der Seniorin muss man gemäß eines Reiseführers als höchstes Privileg werten, das die alte Dame nur besonders geschätzten Gästen gewährt!

Während ich auf dem Dach die blaue Stunde verdöse, muss ich an die vier Franzosen denken, die heute Mittag nach einem Zimmer fragten. Ich stelle mir vor, wie sie in Mardin in einem überteuerten Hotel sitzen und sich gegenseitig Vorwürfe machen, warum sie, wegen des vermeintlich zu hohen Preises hier in Savur, nicht geblieben sind. In diesem Jahr beträgt der Preis für zwei im Doppelzimmer mit Halbpension € 80, nur mit Frühstück € 60 – nicht unbedingt low budget, aber angesichts des Gebotenen das Geld allemal wert, zumal mit den ganzen unberechneten Extras und Freundlichkeiten am Rande.

Als „Ersatz“ treffen gegen Abend noch zwei weitere Franzosen ein. Sie durchreisen die Osttürkei mit öffentlichen Verkehrsmitteln und waren u. a. in Divriği, was wir leider nicht geschafft haben. Der Ältere von den beiden schwärmt von Syrien, das er schon fünf Mal bereist hat, und ganz besonders vom Iran. Auch der Brite heute morgen beim Frühstück legte uns dieses Land ans Herz, vielleicht müssen wir doch mal darüber nachdenken.

Wir lassen den Tag mit der älteren der beiden Schwiegertöchter und ihrem Schwager Aydın ausklingen. Aydın erzählt noch etwas von der Geschichte des 230 Jahre alten Hauses, und wie sie es nach und nach von einem Teehaus in ein „Hotel“ umgewandelt haben (diesen Begriff in Bezug auf den Haçı Abdullah Bey Konağı zu verwenden, fällt schwer). Aydın raucht mit mir ein Zigarillo und gesteht, dass er auch gerne von dem guten Wein trinkt – aber aus einem Teegläschen, damit seine Mutter das nicht merkt … Diese wiederum steckt uns, dass ihr einziger noch lediger Sohn endlich zumindest verlobt ist – die Sorgen einer Mutter. Auf jeden Fall sind wir zur Hochzeit eingeladen. Rendel erzählt, dass sie fünf ältere Brüder hat, was Ayşe folgendermaßen kommentiert: „Beş böcek, bir çiçek“ – „Fünf Käfer und eine Blume“.

Als wir gestern hier eintrafen, erzählten wir u. a. von besagtem Van-Frühstück und dem „Kavut“, dessen Zusammensetzung uns ein Rätsel war. Es handelt sich um eine dicke Paste mit Butter und etwas von der Konsistenz her Sesamähnlichem, die heiß serviert wird. Aydın war am Vorabend derart damit beschäftigt herauszufinden, worum es sich handelt, dass er zunächst sogar meinen Wein vergaß. Heute nochmals darauf angesprochen, entwickelt er eine hektische Aktivität, telefoniert herum. Wir stellen uns vor, wie er Ministerpräsident Erdoğan, der ja, wie wir seit letztem Jahr wissen, als ausgewiesener Süßspeisenexperte gilt (Stichwort: İmam Çağdaş, Gaziantep), aus einer Sitzung rufen lässt, die diversen Geheimdienste das Telefonat abhören, beim Stichwort „Kavut“ hellhörig werden (eine neue Raketengattung?). Auch die Schwiegertochter muss bei dieser Vorstellung lauthals lachen. – Derart spintisierend falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, in der Hoffnung, keine Weltkrise ausgelöst zu haben.

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Dienstag, 25.5., Savur

Die Welt scheint noch zu stehen und wir können uns auf einen sonnigen Tag freuen. Im Gemeinschaftsbad herrscht Hochbetrieb, die Schwiegertöchter wollen heute morgen nach Mardin. Da auch die Franzosen gleich nach dem Frühstück abreisen, haben Oma, Rendel und ich den Konak für uns alleine. Die Frauen bitten uns noch, so wir denn vor Ort sind, eventuellen Gästen behilflich zu sein. Schließlich taucht doch Aydın auf, der mir sein Leid klagt: Einem Freund hatte er zur Reparatur eines Unfallschadens eine größere Summe geliehen, jetzt konnte er sie nicht zurückzahlen.

Erfreulicherweise dürfen wir die Waschmaschine nutzen, müssen aber aufpassen, dass wir Omi zuvorkommen, damit sie sich nicht wieder daran macht, die Wäsche aufzuhängen und zu bügeln.

Am Nachmittag, als der Dolmuş (der typisch türkische Linien-Minibus) ankommt, ist das Haus plötzlich wieder voll. Ein älteres deutsches Ehepaar wandelt auf den Spuren seines Sohnes, der so eine Türkei-Tour im letzten Jahr gemacht hat, dazu ein französischsprachiges Schweizer Paar und zwei junge Botschaftsangehörige, einer Franzose, der andere Kanadier.

Wiewohl die gemeinsamen Mahlzeiten immer recht nett (und lecker und nahrhaft) sind, haben wir uns für heute abgemeldet, denn wir wollen mal in das hoch gelobte Perili Bahce-Restaurant. Es soll direkt am Fluss liegen, ist jedoch derart unter Bäumen versteckt, dass wir es erst nicht finden. In Savur braucht man nicht ausdrücklich dem Rat zu folgen, dort zu essen, wo die Einheimischen hingehen, denn Touristen gibt es eh kaum. Das Perili Bahce ist ein ganz lauschiges Plätzchen; wir bekommen einen Tisch auf einer Plattform über dem kleinen Bach, alles von dichtem Grün umgeben. Die Forelle ist lecker gewürzt, dazu Salat und handgeschnitzte Pommes frites. Mit ein paar Bier erscheinen uns TL 30 voll okay.

Zurück im Konak, sind die anderen Gäste auch beim Essen, wir ziehen uns zunächst auf das Dach zurück, denn heute ist es mal so warm, dass man es dort länger aushalten kann. Später setzen wir uns noch zu den anderen. Insbesondere die beiden Botschaftsangehörigen wissen Interessantes zu berichten. Der Kanadier erstellt im Auftrag seiner Regierung politische Analysen aus der Türkei und seinen Nachbarn, so kann er uns mit einigen Hintergrundinformationen versorgen, u. a. zur strategischen Bedeutung der Straßenbau- und Staudammprojekte.

Um am nächsten Morgen keine Zeit zu verlieren, zahlen wir noch. € 300 für drei Nächte – mit Vollpension, Mittagssnack und Wein, das geht in Ordnung.

Wir wägen ab, versuchen, die momentane Begeisterung nicht zu sehr hineinspielen zu lassen, und kommen doch zu dem Fazit, dass Savur bei Berücksichtigung aller uns wichtigen Faktoren für uns der schönste Ort in der Türkei ist: touristisch völlig unverdorben, ruhig, nette Menschen, mit einmaliger Lage, dazu natürlich die absolut wahnsinnige Unterkunft.

Ach ja: Das mit dem „Kavut“ hat sich letztlich auch geklärt. Es handelt sich um gekochte Weizengrütze mit Dörrbirnenmus und Butter, heiß serviert.

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Mittwoch, 26.5., Savur–Halfeti

Fahrstrecke: 385 km/Fahrzeit: 5:30 h

Um den Badstau zu umgehen, dusche ich schon um sechs Uhr. Halb acht Frühstück, kurze, herzliche Verabschiedung, um halb neun sitzen wir auf den Motorrädern. In der klaren, frischen Morgenluft ist der erste Teil der Strecke bis Mardin ein Genuss, dem Stück danach, das wir schon einige Male absolviert haben, sehe ich mit Grausen entgegen. Die Strecke Kızıltepe–Viranşehir–Şanlıurfa ist nach wie vor eine Strapaze: wie mit dem Lineal gezogen, viele LKW, etliche Baustellenabschnitte und, bis die neuen Teilstücke fertiggestellt sind, eine Holperstrecke. Leider gibt es keine zeitrationelle Alternative, also Augen auf und durch. Erschwerend kommt noch dazu, dass die Landschaft sehr öde ist, kein Schatten, der sich mal für eine Rast anbieten würde.

Aber schließlich ist auch das geschafft. Da es nur einen Umweg von 25 Kilometern bedeutet, machen wir noch den Schlenker über eine der aktuell spektakulärsten Ausgrabungsstätten in der Türkei, den Göbekli Tepe, zu deutsch „Nabelberg“. Der deutsche Archäologe Klaus Schmidt hat hier Tempelanlagen aus dem neunten Jahrtausend vor Christus, also aus der Jungsteinzeit, freigelegt. In der Hauptsache handelt es sich um Steinstelen, die überraschend naturalistische Reliefs tragen und die zumeist kultisch verehrte Tiere zeigen. Die Stelen und Reliefs sind so gut erhalten, dass man auch als Laie und auch auf einige Entfernung (das eigentliche Areal, auf dem noch gegraben wird, ist abgesperrt) viele der Motive erkennen kann. Uns hilft ein junger Mann, der sich wohl auf eigene Kappe als Führer verdingt (der Professör und sein Team kämen erst morgen wieder). Vom Göbekli Tepe hat man einen weiten Rundumblick über die mesopotamische Ebene, nach Haran, Syrien und fast bis zum Nemrut Dağı. (Mehr zum Göbekli Tepe und den Ausgrabungen findet sich in dem Buch von Klaus Schmidt „Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger“ – zurzeit vergriffen.)

In Şanlıurfa tanken wir und werden dabei nett von der Tankstellenmannschaft versorgt. Bis Birecik können wir dann auf der fast leeren, makellosen Autobahn bleiben. Die Vermutung, auf dem Weg nach Halfeti durch Birecik zu müssen, bewahrheitet sich nicht, wir können gleich über Land weiter. Halfeti teilt sich in „Yeni Halfeti“ und „Eski Halfeti“ – alt und neu. Der neue, gesichtslose Teil, der für die Umsiedlung der Bevölkerung bei der Euphrat-Stauung errichtet wurde, liegt zehn Kilometer vor dem alten Halfeti. Die Gebäude, die das Wasser nicht verschlungen hat, liegen direkt an dem großen Strom. Die einzige „richtige“ Pension scheint geschlossen. Rendel fragt, und ein Türke aus Holland, der hier auf Heimaturlaub ist, führt uns zu einem einfachen, leicht schäbigen Haus. In einer halben Stunde käme der Besitzer, dann könnten wir uns das Zimmer anschauen. Der steile Aufstieg zu Fuß hat uns – in Motorradkleidung und Nachmittagshitze – Einiges abverlangt. In einem kleinen Park warten wir auf unseren potenziellen Wirt. Eine Gruppe von vielleicht acht bis zehn ganz niedlichen Kindern – alle so um die zehn – wird auf uns aufmerksam und grüßt freundlich. Sie spielen „Picknick“, mit Chips, Salzstangen und Plätzchen. Auf einmal kommt eines der Mädchen zu uns und bringt uns zunächst ein paar Kirschen, kurz drauf ein kleines Tablett mit einer Auswahl von allen ihren Picknick-Köstlichkeiten. Wirklich unverdorbene Freundlichkeit selbst bei den Kindern. Rendel unterhält sich ein wenig mit ihnen, sie scheinen sichtlich stolz auf ihre neue Bekanntschaft.

Mittlerweile ist Aydın eingetroffen (ja, er heißt genauso wie unser Gastgeber in Savur). Wir fahren diesmal mit den Motorrädern zu seinem Haus. Das Zimmer ist etwas schäbig, aber ausreichend, das Bad okay, im Grunde wohl so, wie so manches einfache Türkenheim auch heute noch aussieht. Es ist fast ein ganzes Haus für uns, mit einer Dachterrasse und einem traumhaften Blick auf den Euphrat. Aydın bietet uns an, auch auf der Dachterrasse schlafen zu können – mal schauen. Im Moment ist es noch brutal heiß, wir sind beide ziemlich groggy, wollen uns das Schlafen aber im Moment zu Gunsten einer guten Nacht verkneifen. Eine ausgiebige Dusche hilft uns halbwegs wieder auf die Beine.

Sigi und Petra haben gesimst, dass sie es heute noch bis Şanlıurfa (aus Palmyra in Syrien kommend) schaffen wollen. Wir schreiben zurück, dass wir das zweite Zimmer bis morgen für sie freihalten. Dann können wir vielleicht zusammen die Bootstour nach Rumkale machen, für die uns Aydın schon „Halil, den besten Kapitän von Halfeti“, vermittelt hat.

Am Euphrat-Ufer befinden sich einige Restaurants, wir entscheiden uns für das Duda, das auf Pontons ins Wasser gebaut ist, Lage und Aussicht sind somit einzigartig. In Rekordzeit – es dauert keine fünf Minuten – stehen die ersten Vorspeisen und der Salat auf dem Tisch, der Fisch-Şiş braucht auch nur wenig länger. Dabei ist alles frisch zubereitet und schmeckt sensationell. Wenn jetzt noch die Musik etwas leiser wäre … Zwischenzeitlich hat ein Boot direkt am Restaurant angelegt, eine Gruppe türkischer Männer mit drei Musikern (die klassische Besetzung: Kemence, eine Art Cello, Darbuka, eine kleine Trommel, und der Schellenring), die wir schon von weitem gehört haben, steigt aus und macht sich über die Rakı-Tafel her, später sollen sie ihren gemeinsamen Gesang noch mal aufnehmen. Wir hatten nicht nach den Preisen gefragt, beim Wein mach ich das aber mal lieber. Als der erstaunlich günstig ausfällt, mach ich mir im Blick auf die Gesamtrechnung auch keine Sorgen. (Zum Schluss zahlen wir umgerechnet etwa 45 Euro – mit Fisch als Hauptgericht, Wein und allem Zipp und Zapp.) Als der Patron fragt, ob wir noch etwas möchten, können wir, wie so oft in diesem Urlaub, nur antworten: „Hayır, şişdik!“, „Nein danke, wir sind vollgefressen.“

Rendel läuft auf dem Rückweg noch kurz los, um Wasser zu holen und kommt mit der Nachricht zurück, dass Sigi und Petra schon angekommen und auf dem Zimmer seien. Unsere SMS hat sie noch rechtzeitig erreicht, und da sie in Urfa kein Zimmer bekommen haben, sind sie gleich weiter nach Halfeti durchgedüst. Das muss ein ziemlicher Ritt gewesen sein – Palmyra in der syrischen Wüste bis hier an einem Tag! Entsprechend fertig sind die beiden. Ohne dass sie geduscht und sich umgezogen haben, zeigt ihnen Rendel noch das Restaurant, während die beiden essen, liegen wir noch ein wenig unter dem Sternenhimmel auf der Dachterrasse. Die Nacht ist unruhig, erst ärgern uns die Hitze und die Mücken, in den Morgenstunden dann einige freche Fliegen.

Aber heute hat sich ein Traum erfüllt, zumindest fast: Ich habe mir ja schon immer vorgestellt, irgendwann nachts am Tigris zu stehen und zu sehen, wie sich die Sterne im Wasser spiegeln. War zwar der Euphrat, aber das ist zu verkraften.

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Donnerstag, 27.5., Halfeti

So mies die Nacht auch war: Verschlafen durch die offene Zimmertür zu linsen und dann den träge dahinfließenden Euphrat in greifbarer Nähe zu sehen, das ist schon ein Erlebnis, zudem die morgendliche Atmosphäre – alles noch ruhig, die Luft frisch und klar.

Auf der Terrasse schnarcht Petra leise vor sich hin, sie hatte gegen vier in der Früh die Nase von den Mücken voll und hat die Nacht lieber unter freiem Himmel zu Ende gebracht. Neben Mücken und Fliegen haben wir mindestens noch zwei weitere Mitbewohner: Rendel fotografiert zwei Reptilien, die an Zimmerwand und -decke kleben, die wir später als „Türkische Halbfingergeckos“ identifizieren können (wer da noch alles mit uns haust, will ich gar nicht wissen …)

Heute sind alle etwas verschlafen, denn die Nacht war nicht so gut. Wir raffen uns zum Frühstück bei Aydın auf, der uns ganz gut versorgt, u. a. mit je vier Spiegeleiern für jeden.

Zu elf Uhr verabreden wir uns mit Käpt’n Halil zur Bootstour. Mit knatterndem Diesel geht es stromaufwärts. Zum einen ist es natürlich landschaftlich wunderschön, da durch die Stauung die Felsen praktisch senkrecht aus dem Wasser ragen. Und dann passieren wir zunächst die alte Festung Rumkale (das „Rum“ steht für „griechisch“), fahren dann weiter zu dem verlassenen Dorf Savaşan, das zum Großteil unter Wasser steht. Der vormals an dieser Stelle etwa hundert Meter breite Strom ist hier jetzt drei- bis vierhundert Meter breit, dazu bis zu einhundert Meter tief. Von dem Dorf sind nur noch die höher gelegenen Häuser sichtbar, bis auf ein paar Ausflugslokale und Teehäuser verlassen. Auch vom Minarett ragt nur noch die obere Hälfte aus den Fluten. Ein Opi, der vor Ort ausgeharrt hat und noch dort wohnt, serviert uns Tee und zeigt uns ein Foto vom noch nicht versunkenen Dorf. Zusammen mit den kleinen Ortschaften rund um Halfeti ist auch das antike Zeugma Opfer der Fluten geworden, ein Vorgang, den natürlich vor allem Archäologen bedauern. Ähnliches steht vielleicht für Hasankeyf zu erwarten.

Auf dem Rückweg machen wir noch am Rumkale Halt. Fast senkrecht ragt die gewaltige Außenmauer vor uns hoch. Ein Luftbild, das ich später zu Gesicht bekomme, zeigt die riesigen Ausmaße der Klosterfestung, die einst Sitz eines armenischen Patriarchen war. Wir erklimmen die Anlage ein Stück weit, so weit, wie es die Hitze zulässt, selbst Halil ist der ganze Aufstieg zu heftig. Stattdessen klettern Rendel und er in eine tiefe Zisternenanlage, die solche Ausmaße hat, dass im Innern breite Treppen ausgehauen wurden. Zum Abschluss lassen Petra und Rendel noch die Beine in den kühlen Fluss baumeln – von der Idee, noch drin zu baden, rate ich Rendel ab, sie im Bikini, dazu Halil, das ist hier vielleicht nicht ganz angemessen. Zwölf Kilometer betrug unsere Fahrt, das Ganze für alle für € 30 – eine ganz und gar lohnende Angelegenheit.

Nach der unruhigen Nacht holen wir am Nachmittag etwas Schlaf nach, die Hitze zu dieser Zeit lässt sich eh am besten auf dem Zimmer verkraften, wiewohl die unklimatisierten Räume auch nicht gerade kühl sind. Rendel scheint noch überschüssige Energie zu haben und ersteigt den uns im Rücken liegenden Burgberg, wo schon den ganzen Tag über ein einsamer Esel markerschütternd iiiaaaht.

Das Restaurant von gestern Abend war gut, weswegen wir es wieder aufsuchen. Heute ist es zudem etwas ruhiger, allerdings kommt ein starker Wind mit leichtem Regen auf. Sigi hat etwas Magenprobleme, darum verleiben wir restlichen drei uns noch seine Portion mit ein.

Schon mit einer gewissen Vorahnung gehen wir ins Bett. Die typische Konstellation: das Zimmer zu heiß, um die Tür zu schließen, aber dann kommen noch mehr Mücken rein. Ich schlafe ein, höre aber schon bald darauf geschäftiges Treiben auf der Terrasse. Rendel und Petra haben ihre Bettstatt nach draußen verlegt, aber da es wieder zu regnen anfängt, müssen sie die Liegegestelle unters Vordach ziehen. Es wird immer heißer. Wegen der Mücken ziehe ich mir das zudem noch recht dicke Laken über den Kopf. Der Schweiß tropft. Die Ohrenstopfen, die ich mir gegen das tyrannische Gesirre reingesteckt habe, helfen auch nur, solange sie nicht direkt über dem Kopf schwirren.

Ich biete Verhandlungen an: Im Gegenzug zu einem Körperteil, das ich freiwillig raushängen lasse, geben sie dann Ruhe. Aber Euphratmücken verhandeln nicht, machen keine Gefangenen. Am folgenden Abend zählt Rendel alleine an meinem rechten Bein etwa 180 Stiche, am ganzen Körper überschlägig gut 500. Zum Glück juckt es nicht. Zudem tröstet mich der Gedanke, dass sich die nächste Generation von Geckos auf dem Zimmer wegen der Nahrungsfülle wohl gut entwickeln wird, weswegen in der Folge die Mücken dann wohl stark dezimiert werden. (Trotzdem sollte man in der SO-Türkei Mückenschutz ernst nehmen – Malaria und Leishmaniose sind nicht zu unterschätzen.)

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Freitag, 28.5., Halfeti–Taşucu

Fahrstrecke: 502 km/Fahrzeit: 5:30 h

Ziemlich lädiert packen wir zeitig und machen uns in voller Montur zu Aydıns Büdchen zum Frühstück auf. Das fällt wie am Vortag üppig aus – wenigstens etwas. Schwer begreiflich, dass es an einem an Attraktionen so reichen Ort keine besseren Unterkünfte gibt.

Der Blick zum Himmel lässt zunächst nichts Gutes erwarten. Nachdem es in der Nacht geregnet hat, sind die Straßen zwar schon wieder abgetrocknet, aber dunkle Wolken machen sich in Fahrtrichtung breit, fernes Donnergrollen ist zu hören. Etwa 500 Kilometer liegen vor uns, doch haben wir uns für diese Verbindungsetappe, auf der wir nur Strecke machen wollen, die Autobahn ausgewählt. Zunächst müssen wir aber auf kleinen, kurvigen Sträßchen Richtung Birecik – genau auf das Gewitter zu! Vor uns zucken kräftige Blitze – bei Gewitter auf dem Motorrad, da habe ich ordentlich Manschetten. Wir schwenken Richtung Westen auf die Autobahn nach Gaziantep – und lassen das Gewitter links liegen. Die Autobahn geht zur Zeit von Şanlıurfa über Gaziantep und Adana bis kurz hinter Mersin. Der Zustand ist fast durchweg besser als der unserer Bundesautobahnen, zudem zumeist sechsspurig. So ist der Großteil der heutigen Etappe relativ entspannend, abgesehen vom starken Wind, dem man immer gegenhalten muss. Wir trauen uns zumeist 120 km/h (auf der Autobahn dürften wir mit den Motorrädern maximal 90). Nachdem wir über einige weit ausspannende Viadukte und durch lange Tunnel gefahren sind, tut sich vor uns die Çukurova-Ebene auf, oder besser: sie sollte sich auftun. Für den Rest des Tages fahren wir durch einen gleichmäßigen Dunst, der einen im besten Fall ein bis zwei Kilometer weit sehen lässt. Dieser Dunst wird uns bis zu unserem Tagesziel erhalten bleiben. Eine Besonderheit dieser Strecke war uns schon im letzten Jahr aufgefallen: die Huren, die hier häufig auf dem Seitenstreifen an den Geländern lehnen und sich ihrer Kundschaft andienen.

Rendel erinnert sich, das Fahrzeug mit Kamera in Gegenrichtung stehen gesehen zu haben. An einem Rastplatz hat die Polizei unsere Fahrtrichtung komplett dicht gemacht (in Deutschland völlig undenkbar, hier, bei den paar Fahrzeugen, gar kein Problem). Der gesamte Verkehr wird über die Raststätte geleitet, einige Fahrzeuge rausgewunken. Wir nicht. Erleichtert stellen wir die Moppeds ab und machen Rast. Nachdem wir die Autobahn verlassen haben, geraten wir noch zwei Mal auf Tuchfühlung mit der Polizei. Das eine Mal halten sie an einer Ampel neben uns, fragen aber nur, woher wir kommen, das andere Mal trauen wir uns, einen mit der zulässigen Geschwindigkeit fahrenden Streifenwagen zu überholen, was aber auch ohne Folgen bleibt. (Wiewohl die Regeln eigentlich klar sind, fällt es immer ein wenig schwer zu entscheiden, was man nun wirklich „darf“, zumal sich in den Ortsdurchfahrten, in denen – geschlossene Ortschaft – eigentlich für alle „fünfzig“ gilt, eh keiner daran hält.)

Zwar mildert der Dunst die Sonneneinstrahlung etwas, doch ist es drückend. Obwohl uns Taşucu, der kleine, meist von Türken besuchte Urlaubsort, der zugleich auch Hauptfährhafen nach Zypern ist, von zwei Aufenthalten in sehr guter Erinnerung ist, wollen wir diesmal zur Abwechslung ins zehn Kilometer weiter liegende Boğsak, wo es ein nettes Hotel am Meer geben soll. Das hat zwar auf, doch wären wir die einzigen Gäste, was uns etwa im Blick auf Restaurantauswahl etc. nicht günstig zu sein scheint. Auch nicht günstig, wenn auch nicht überzogen, sind die Preise. Wir lehnen freundlich ab und machen kehrt nach Taşucu. Die Eheleute İlgaz, Wirtsleute der Meltem-Pension, begrüßen uns herzlich und weisen uns nette Zimmer zu – akzeptable Qualität zum fairen Preis, zudem in unschlagbarer Lage.

Wir lassen den Abend im Baba-Restaurant direkt am Meer ausklingen. Im letzten Jahr hatte es noch nicht wieder geöffnet, doch diesmal können wir wieder Hummus mit Pastırma (also diesen lecker gewürzten Kichererbsenbrei mit Dörrfleisch, in etwa wie Bacon) genießen. Als Hauptgang gibt es Lamm aus dem Backofen – meiner Abneigung gegen Lammfleisch gehen zusehends die Argumente aus.

Rendel behauptet zwar, wir hätten zwei Mücken auf dem Zimmer gehabt, aber selbst wenn: Was sind die gegen die Myriaden vom Euphrat? Entsprechend erholsam wird die Nacht, ein, zwei Mal wache ich auf und lausche irritiert, es ist aber nur die Brandung, die dann ihre beruhigende Wirkung ausübt.

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Samstag, 29.5., Taşucu

Keine besonderen Vorkommnisse. Herumtrödeln, mittags für 11 TL Hähnchendöner, Rendel und Petra legen sich an den Strand, auch ich wage mich mal ins Wasser. Abends gehen wir ins Denizkızı, das Restaurant, das uns schon im letzten Jahr eine gute Alternative zum Baba war.

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Sonntag, 30.5., Taşucu–Beyşehir

Fahrstrecke: 395 km/Fahrzeit 6:15 h

Zeitig legen wir los, um neun sind wir unterwegs. Petra und Sigi begleiten uns noch ein paar Kilometer Richtung Mut, dann sagen wir „Tschüss“. Sie wollen nach Side, wo sie bei Christiane im Nar Apart noch etwas abhängen wollen. Schon zum dritten Mal stehen wir in Taşucu vor der Entscheidung, welche Strecke wir nehmen sollen – an der Küste lang oder durch die Berge? Zwei Mal fiel die Wahl auf die Küstenstraße über Anamur, doch diesmal soll es eher Richtung Norden gehen, also durch die Berge. Das erste Stück bis Mut kennen wir noch von unserem seinerzeitigen Ausflug zum Kloster Alahan. Über weite Strecken begleitet uns das fast unnatürlich blau-grün schimmernde Wasser des Göksu, immer flankiert von sehr hoch aufragenden, steilen Felsen. Heute scheint „Aprikosen-Sonntag“ zu sein – uns kommen haufenweise kleine Einachser entgegen, deren Anhänger hoch damit beladen sind.

So schön die Strecke auch ist, sie zieht sich endlos. Auch wenn klar ist, dass die vereinfachte Darstellung auf der Landkarte täuscht, stutze ich doch immer wieder, wenn ich uns schon viel weiter wähnte. Endlich erreichen wir Taşkent, eine teilweise aberwitzig anmutende Ansammlung von Häusern an einem steilen Berghang. Ab da geht es etwas fixer, über Seydişehir erreichen wir schließlich Beyşehir, unser Etappenziel. Auch das Hotel ist schnell gefunden, draußen parken zwei BMWs, deren einer Eigner uns gleich begrüßt. Die andere gehört einem Ehepaar aus dem Kreis Landshut – es sind Karl-Heinz, Christa und Fridger, die drei, die Sigi und Petra schon in Syrien getroffen hatten. Wir setzen uns zu einem Bier zusammen und tauschen uns aus, geben ihnen noch den Tipp „Gökceada“, den sie vielleicht aufgreifen wollen.

Beyşehir. Bislang hatten wir diese Stadt wohlweislich umschifft, obwohl die prinzipielle Beschreibung nicht schlecht klang. Aber da war zum einen der zwar wertfreie Hinweis im Michael-Müller-Reiseführer, der Ort sei – wie wir auch z. B. von Erzurum gelesen hatten – „sehr konservativ“, was uns etwas zurückhaltend sein ließ. Zum anderen erinnerten wir uns an den ausdrücklichen Rat, den uns vor drei Jahren ein junger Mann in Pamukkale gegeben hatte. Wir erzählten, dass wir als nächste Station Beyşehir angepeilt hätten, worauf er uns dringend zur Nachbarstadt Eğirdir riet (was auch kein schlechter Tipp war). Nun also doch Beyşehir. Um es kurz zu machen: Auch diese Stadt ist einen Besuch wert. Sicher kann man verstehen, wenn ein junger türkischer Mann, der von den Freiheiten träumt, die etwa İstanbul bietet, davon abrät, oder ein Reiseführer mit Blick auf Touristen, die auf Nightlife aus sind, andere Ziele empfiehlt. Aber auch Beyşehir hat Charme und strahlt Lebensfreude aus, gerade am Wochenende, wenn die Lokale am Wasserregulator, eine Art Staumauer, die den Abfluss aus dem See steuert, überquellen und sich die Familien in den Parks und auf den Spielplätzen tummeln. Also eine ähnlich positive „Enttäuschung“ wie seinerzeit in Erzurum.

Das Zimmer im Beyaz Park Otel, das direkt im Zentrum neben besagtem Regulator liegt, ist etwas heruntergekommen, die 50 TL aber wert.

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Montag, 31.5., Beyşehir–Kütahya

Fahrstrecke: 369 km/Fahrzeit 5:20 h

Ich bin sauer! Zum zweiten Mal – nach Amasya vor zwei Jahren – hat man mir das Thermometer aus dem Cockpit geklaut. Okay, selbst schuld, hätte ich ja, wie das Navi, abnehmen können. Systematisch gestohlen wird allerdings nicht, so sind meine angezippten Seitentaschen, die ich immer beladen dran lasse, unberührt, und dass, obwohl das Mopped direkt auf dem Bürgersteig steht.

Wir tauschen mit den drei anderen Motorradfahrern noch Adressen aus, packen fix und starten durch. Vor drei Jahren sind wir von Norden kommend am Ostufer des Sees entlang gefahren (mit dem Abstecher zum Hethiter-Quellheiligtum Eflatun Pınare), darum soll es dieses Mal am Westufer entlang gehen, zudem führt die Strecke durch einen Nationalpark und ist auf der Karte auch entsprechend als „schön“ gekennzeichnet.

Und „schön“ ist weit untertrieben. Die Gegend ist einfach grandios, besonders das erste Drittel (von Süden aus gesehen). Ganz enge, kurvige Sträßchen führen direkt am See entlang, viel Grün, Pinien, Wacholder, Oliven. Überall kleine Kuhherden, Schafe und Ziegen, wir müssen aufpassen, keine Schildkröten zu überfahren, Verkehr herrscht kaum, auf dem Stück vielleicht fünf Autos. Zum Glück darf man hier leider nicht zelten, aber eine Picknickpause sollte man einplanen. Natürlich kostet dieses Teilstück seine Zeit, aber alleine dafür lohnt schon der Weg über Beyşehir. (Das letzte Stück am See entlang ist dann weniger kurvig und geht recht fix.)

Bislang war das Wetter zwar nicht so durchgängig „schön“ im Sinne von ausschließlich blauer Himmel, doch sind wir während der Fahrzeiten von Regen verschont geblieben. Heute, kurz vor Afyon, braut sich jedoch ein Gewitter zusammen. Bei den ersten Tropfen entschließen wir uns, den bald fälligen Tankstopp vorzuziehen, kaum unter dem Tankstellendach, geht der Wolkenbruch los, begleitet von bedrohlich wirkenden Blitzen. Zum Glück verzieht sich das Gewitter schnell in Gegenrichtung, wir warten noch kurz ab, bis die Straße halbwegs abgetrocknet ist und fahren dann vorsichtig weiter. Der blankpolierte Asphalt, noch dazu nass – das ist absolut tückisch, woran uns auch ein Unfall erinnert, den wir kurz drauf passieren.

Afyon – „Opium“ – ist bis heute Zentrum des türkischen Mohnanbaus. Das geschieht natürlich streng kontrolliert und nur zu medizinischen Zwecken, es wird aber berichtet, dass so manche Oma noch entsprechende Hausmittelchen hat, um etwa chronische Schreikinder ruhigzustellen.

Kütahya haben wir uns aus rein strategischen Gründen ausgesucht, denn eigentlich spricht nichts für einen längeren Besuch. So originell die Namensgebung Qtahya Hotel in Anlehnung an den Namen der Stadt auch sein mag, sinnvoll erscheint er mir in einer Sprache, die gar kein „Q“ im Alphabet kennt, jedoch nicht (wo finde ich das im Telefonbuch?) Es ist ein schon besseres Hotel für Geschäftsleute, was sich auch in den 100 TL niederschlägt (ein Preis, den Rendel schon von 120 TL heruntergehandelt hat). Leider hat es, was wir erst später registrieren, keine Klimaanlage, was die Nacht wieder zu einer verschwitzten Angelegenheit werden lässt.

Wir laufen ein wenig durch die Stadt und suchen ein Restaurant namens „274“, das zu den besten der Stadt gehören und über eine erlesene Weinkarte verfügen soll. Nach viel Gelaufe und Gefrage stellt sich raus, dass es das schon länger nicht mehr gibt. (Danke, Lonely Planet! Okay, ich weiß, dass die Angaben nicht immer aktuell sein können, aber auch sonst kann ich die Führer aus diesem Haus allenfalls als Ergänzung empfehlen.)

Schließlich gehen wir ins Restaurant unseres Hotels. Dieser Restaurantbesuch hat schon etwas Skurriles. Praktisch nichts von dem, was wir bekommen, entspricht dem, was wir bestellt hatten, obwohl die ganze Mannschaft sehr bemüht ist. Okay, es schmeckte und die Leute waren nett, warum also einen Aufstand machen? Noch einen Wein zu bestellen traue ich mich aber nicht mehr.

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Dienstag, 1.6., Kütahya–Gökceada

Fahrstrecke: 493 km/Fahrzeit 6:20 h

1. Juni, Rendels Geburtstag! Leider kann ich ihr nicht viel mehr bieten als besseres Wetter als zu Hause und einen mörderischen Ritt. Dass der so heftig wird, zeichnet sich jedoch erst ab, als wir sehen, dass wir eventuell noch die 15-Uhr-Fähre nach Gökceada bekommen können. Das käme gut, weil die nächste erst um 19 Uhr gehen würde, also lange Wartezeit und dann im Dunkeln auf der Insel ins entlegene Bergdorf Tepeköy.

Wir können um sieben Uhr frühstücken, das Frühstücksbuffet ist das umfangreichste, das uns in einem türkischen Business-Hotel je untergekommen ist. Schon um kurz vor acht haben wir Kütahya im Rückspiegel. Bei der Ausfahrt passieren wir noch etliche der Porzellan- und Keramikfabriken, für die diese Stadt berühmt ist. Da es heute wieder mal darum geht, „Strecke“ zu machen, sind wir erfreut, dass es bis hinter Bursa fast durchgehend auf autobahnähnlichen Straßen geht – was man für den Rest nicht sagen kann, alles, was dann kommt, scheint irgendwie Baustelle zu sein. Einige Kilometer weit hängen wir hinter einem LKW, den wir nicht überholen können. Statt dem üblichen Dieselgestank liegt ein süßlicher Geruch in der Luft, etwas, was unsere aromastoff-verdorbenen Nasen irritiert – der LKW hat Erdbeeren geladen und zieht deren Duftfahne weit hinter sich her.

Hin und wieder passieren wir Polizeikontrollen, auch die berüchtigten „Blitzer“, doch ohne, dass sie etwas von uns wollen. „Drei Mal lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung“ – so müsste wohl allein das Urteil für die Geschwindigkeitsübertretungen eines einzigen Tages lauten. Heute zeigt das Navi eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 80,5 km/h – bei erlaubten 70! Grundsätzlich vertrete ich die Haltung, sich den Vorschriften des Gastlandes unterzuordnen, aber was, wenn dort jeder gegen diese Vorschriften verstößt? Ich habe mir angewöhnt, im Strom des Verkehrs mitzuschwimmen – und manchmal heißt das eben Tempo 100 … Einmal war ich mir heute sicher, schon mal meine Euros zählen zu sollen, doch auch die Tempokontrolle bei 92 km/h blieb ohne Folgen.

Rendel leidet mittlerweile unter den Folgen unserer Parforce-Jagd – Verspannung, Kopfschmerzen. Bei der Dardanellenquerung Çanakkale–Eceabat sind wir zunächst noch halbwegs in der Zeit, als wir dann aber kurz von dem Anleger stoppen, um auf eine andere Fähre zu warten, wird’s knapp. Rendel mutmaßt allerdings, dass die Fähre nach Gökceada vielleicht aus diesem Grund noch warten wird. Wir geben auf den zehn Kilometern nach Kabatepe heftig Gas und rollen um fünf vor drei auf die Fähre. Puuuh! Triefend vor Schweiß schleppe ich mich in die Cafeteria, um Wasser nachzufüllen. Rendel schaut nach den Moppeds. Vor zwei Jahren war uns auf dieser Strecke eine der Maschinen bei dem Seegang umgekippt. Als ich nachschaue, sehe ich Rendel zwischen beiden Motorrädern stehend festgekrallt. Ich löse sie ab und schaffe es teilweise kaum, die schwankenden Moppeds gegen das krängende Schiff auszugleichen. Auf dem Fahrzeugdeck herrschen über 40°C, ich bin völlig durchnässt, als wir schließlich in Kuzu Limanı („Schafshafen“), dem Fährhafen von Gökceada, einlaufen. Bevor sich die Rampe senkt, macht der Fahrer des Autos neben uns auf sich aufmerksam – Barba Yorgo, unser Wirt! Wir begrüßen uns kurz, dann fährt er voraus. Nach 15 Minuten Fahrt erreichen wir die Taverne in Tepeköy und bekommen dasselbe Zwei-Zimmer-Häuschen wie im vorletzten Jahr zugeteilt.

Damals, wir trafen erst spät und im Dunkeln ein, machte das Ganze einen etwas unwirklichen, fast gespenstischen Eindruck, irgendwie wie eine Enklave. (Tatsächlich musste ich damals – frag mich keiner, wieso – an Colonel Kurtz und sein Dorf aus Apokalypse Now denken …) Jetzt, wo wir im Hellen eintreffen, bietet sich ein anderes Bild, zumal Barba Yorgo seine Taverne vom Ortskern hin zu seiner Weinkellerei verlegt hat – nicht weniger lauschig, aber eben nicht ganz so typisch griechisch. Zu griechischen Zeiten hieß Gökceada Imbros, der Flecken Tepeköy Agridia.

Die Taverne bietet einen weiten Blick über Yorgos Weinstöcke, den Stausee, bis hin zu den Bergen. Heute ist die Sicht jedoch versperrt, Dunst und Wolken, zudem weht ein kalter Wind. Die Köfte und der eigene Wein (Yorgo baut zwei Rotweinsorten an, einen weißen, dazu mixt er noch Retsina) schmecken klasse, doch ziehen wir uns zeitig zurück – wir sind müde und uns wird kalt. Nachts regnet es heftig, doch wette ich wieder mit mir selbst, dass es morgen schön sein wird.

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Mittwoch, 2.6., Gökceada

Wette gewonnen! Mich weckt Babygeschrei, das sich jedoch als das von der Tonlage noch etwas hohe Blöken von jungen Lämmern entpuppt. Ansonsten blauer Himmel, klare Luft – einfach herrlich!

Eigentlich gibt es solche Orte gar nicht mehr, zumindest für uns: Entweder sind derart abgeschiedene Refugien nicht zu bezahlen oder sie sind binnen kürzester Zeit für die Massen erschlossen. Der Geheimtipp schlechthin ist Gökceada und vor allem auch Tepeköy aber auch nur noch in der Nebensaison, während der Sommermonate tummeln sich hier vor allem Griechen und gut betuchte Türken (was die Qualität nicht mindert, nur fühlt man sich eben nicht mehr ganz so „exklusiv“). Dabei ist der Ort an sich gar nicht soo attraktiv: Viele der Gebäude sind verfallen, einige auch gut restauriert, die Insel ist verkehrstechnisch schlecht angebunden (eine Marina und ein Flughafen jedoch – leider – geplant), und zu allem Überfluss tritt man buchstäblich überall in Schafs- oder Ziegenkacke. Ein verschissenes Dorf irgendwo im Nirgendwo. Und traumhaft schön, traumhaft auch in dem Sinne, als es dem Traum neue Nahrung gibt: Hier ein kleines Häuschen … Aus den Träumen weckt einen hier auch kein Muezzin, stattdessen hört man hin und wieder das helle Glöckchen der kleinen Kirche, über den Dächern zeichnen sich Kreuze ab – und die junge, bekopftuchte Türkin grüßt die zum abendlichen Tratsch versammelten Männer mit dem griechischen „Jassas!“

Beim Frühstück unterhalten wir uns mit dem derzeit einzigen weiteren Gast. Die 50-jährige Frau erzählt, dass sie von der Nachbarinsel Bozcaada kommt (dort, wo wir vor drei Jahren waren) und jedes Jahr ein paar Tage hier verbringt, weil es hier noch ruhiger ist. Sie spricht sehr gutes Deutsch, denn sie ist in İstanbul aufgewachsen, wo ihr Vater sie auf die deutsche Schule geschickt hat.

Wir erklären den Tag offiziell zum „day off“, Rendel wäscht nur ein paar Sachen durch. Vielleicht schaffe ich es heute nachmittag noch in den Hauptort, um mich mal wieder rasieren zu lassen. Die drei Bayern haben sich gemeldet, wollen auch nach hier, nur geht aus der SMS nicht klar hervor, wann sie eintreffen werden, vorsichtshalber schicke ich ihnen die Abfahrtszeiten der Fähre.

Während wir beim Abendessen sitzen (Lammkotelett), treffen die drei ein, die 15-Uhr-Fähre haben sie knapp verpasst. Zusammen lassen wir den Tag ausklingen.

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Donnerstag, 3.6., Gökceada

Heute soll es mal an einen der Strände gehen, von denen Gökceada einige hat. Leider ist der Himmel verhangen. Somit ziehen wir das Frühstück etwas in die Länge, entschließen uns dann zu einer kleinen Inselrundfahrt (die Bayern wollen heute einen motorradfreien Tag einlegen). Nach dem Frühstück wiederholt Barba Yorgo seine schon am Vorabend ausgesprochene Drohung: Für einen Freund würde er heute Abend eine Spezialität zubereiten, an der er uns auch teilhaben lassen würde – Ziegenkebab! Ich verziehe vorsorglich mein Gesicht und weise darauf hin, dass, wenn man es nicht gewohnt ist, Ziegenfleisch nicht sehr bekömmlich sein soll. Es scheint jedoch, dass ich aus der Nummer nicht rauskomme. Warten wir’s ab. An das Wildschweinsteak wollte ich ja vor zwei Jahren auch erst nicht ran, beim Gedanken daran läuft mir heute noch das Wasser im Mund zusammen.

Wir halten uns auf den Moppeds Richtung Westen, fahren den westlichsten Punkt der Türkei an, der beim Gizli Limanı genannten Strand liegt. Als die Straße aufhört, bleibt Rendel stehen, ich lege noch eine Enduro-Etappe ein. Dem Ziegenpfad könnte man noch etliche Kilometer folgen, doch mache ich kehrt. Die letzten hundert Meter geht es steil bergab, Geröll, ausgewaschene Rinnen – hier darf man die Vorderradbremse nicht mal anschauen. Wiewohl es wärmer geworden ist und wir Schwimmzeug dabei haben, vertagen wir den Badestopp und geben nochmal Gas. Heute ist das Fahren der reinste Genuss, schöne Kurven vor herrlicher Kulisse, dabei praktisch kein Verkehr. Nach 75 Kilometern haben wir die Insel praktisch einmal umrundet.

Im gleichnamigen Hauptort von Gökceada konsultiere ich mal wieder einen Berber, der sehr gründlich vorgeht, Kopf und Bart zwei Mal rasiert und mir dafür nur TL 10 abverlangt. Noch etwas günstiger kommt uns der Mittagssnack zu stehen – zwei gut belegte Lahmacun mit Salat, dazu zwei Ayran und eine Cola für TL 7, und das in einem Hotelrestaurant.

Während praktisch alle anderen Ägäisinseln mit Wasserknappheit zu kämpfen haben, gibt es das lebenswichtige Nass hier im Überfluss. Abgesehen von den höheren Berggipfeln ist die Insel praktisch durchweg grün, ein Stausee hilft, auch für Trockenperioden Wasser zu speichern. Der Großteil der Bevölkerung konzentriert sich in Gökceada-Stadt und den paar Dörfern, ansonsten ist die Insel dünn besiedelt. In der türkischen Feriensaison ist hier natürlich mehr los, aber alle Strände, an denen wir heute vorbeigefahren sind, hätten wir für uns alleine gehabt – und dass, obwohl der Himmel mittlerweile wieder strahlend blau und es in der Sonne nicht auszuhalten ist. (Die von der Inselregierung herausgegebene Touristenbroschüre weist Gökceada als die viertgrößte Insel der Welt aus! Der Vergleich des englischen Textes mit dem türkischen zeigt dann, dass sie sagen wollten, dass es sich um die viertgrößte Insel mit autarker Wasserversorgung handelt. Auf was für Superlative die Tourismusmanager kommen …)

Um das Ziegenmenü kann ich mich drücken, ich greife auf die Lamm-Köfte zurück.

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Freitag, 4.5., Gökceada

Nach dem Frühstück starten wir mit Fridger, dem Regensburger, zur Besteigung des „Tepe“, des Gipfels, der sich hinter unserer Pension erhebt. Im Dorf sitzt der Pope mit einigen Leuten zusammen, spricht uns auf deutsch an und weist uns den Weg. Entweder haben sie sich einen Spaß mit uns erlaubt oder wir haben den Weg nicht richtig gefunden. Schließlich geht es auf einem Ziegenpfad in die richtige Richtung, bis sich der Weg verliert und wir über Geröll und stachlige Phryganafelder müssen. Auf etwa der Hälfte geben wir mit Blick auf den noch anstehenden Abstieg über das Geröll auf. War trotzdem schön, vor allem der Blick von der Anhöhe über das Dorf.

Um mich mit dem Motorrad mal ein wenig austoben zu können, bietet Rendel an, ich soll mich doch allein auf den Weg machen, was ich dann aber doch nicht übers Herz bringe. So schwingt sie sich auf den Sozius und wir begeben uns zunächst auf eine Lehmstraße, die sich in weiten Kurven um besagten Berg zieht. Hier mit einer leichten Einzylinder-Enduro – das wär’s! Doch selbst mit schwerem Gerät und Rendel hinten drauf macht’s Spaß (und ich habe mal wieder Gelegenheit, mich als „ihr Held“ zu erweisen). Dann geht’s noch ein wenig über die Insel, unter anderem gucken wir uns einen schönen Badeplatz für morgen aus. Ich lasse es mal richtig fliegen und habe schnell wieder 70 Kilometer mehr auf der Uhr. Es ist verrückt: Auf der ganzen Strecke begegnen wir nur ganzen drei Autos.

Als wir beim Tee in unserer Taverne sitzen, trifft ein türkisches Paar ein. Wir begrüßen uns und stellen fest, dass wir uns kennen. Es sind die zwei, die wir schon vor zwei Jahren hier trafen, İstanbuler Architekten, die seit fünf Jahren jedes Wochenende die zweimal 350 Kilometer auf sich nehmen, um hier Ruhe zu finden.

Ihr Englisch und unser Türkisch sind nicht gut genug, um das differenziert erörtern zu können, doch sagen sie, dass aus ihrer Sicht vom radikalen Islam und von den Kurden die größte Gefahr für die Türkei ausgehe. Zudem ginge es mit der Wirtschaft bergab, alles, was als Wachstum dargestellt würde, sei künstlich aufgebauscht. Wir können diese Ansichten nicht bewerten, doch nehmen wir sie interessiert zur Kenntnis.

Wir haben uns entschieden, noch zwei Nächte zu bleiben und dann die Frühfähre zu nehmen. Kurz vor der türkisch-griechischen Grenze wollen wir schauen, ob der Ort Enez vielleicht etwas für uns sein könnte, wenn nicht, düsen wir durch nach Olimpiada eingangs der Chalkidiki, wo wir schon vor zwei Jahren ein paar schöne Tage verbracht haben.

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Samstag, 5.6., Gökceada

Die Bayern machen sich nach dem Frühstück auf, sie wollen mit der 12-Uhr-Fähre aufs Festland und heute noch nach Griechenland, wo sie auf dem Chalkidiki-Finger Kassandra noch ein paar Tage abhängen wollen. Unsere Planungen für den Strand müssen wir uns knicken, da der Himmel heute verhangen ist. Gegen Mittag treffen zwei Motorradfahrer mit ihren Sozias ein – Mümtaz, kurz „Müm“, auf einer Honda TransAlp, Mehmet auf einer alten Yamaha Ténéré. Sie sind Lehrer aus Çanakkale auf Klassenfahrt, die Schüler treffen kurz drauf mit dem Bus ein – schöner Job!

Am Nachmittag zieht ein Gewitter auf. Kurz vorher wieder das Geräusch eines Motorrads. Ein Türke Mitte zwanzig auf einer kleinen (100er oder 200er) Straßen-Honda. Er kommt aus İstanbul und macht eine Inseltour. Da er gut Englisch spricht, können wir uns besser unterhalten. Der Mann gefällt mir, richtig zünftiger Biker, der seine Reisen nicht von begrenzten Mittel und Ausstattung abhängig macht: zum Schutz gegen Regen eine dünne Plastik-Pelerine, Sandalen, Zelt auf dem Rücksitz, auf dem Kopf aber einen modernen UVEX-Helm. Er schaut sich unsere Bikes an, zeigt auf seinen Hintern und fragt, ob wir eine Lösung für die entsprechenden Schmerzen hätten, er hat sich zu dem Zweck ein gefaltetes Handtuch druntergelegt. Kennt sich zudem gut aus, der Name „Touratech“, deutscher Zubehörlieferant für unzählige Reisemotorräder, ist ihm sehr geläufig. Wir hoffen, dass er den heftigen Gewitterregen halbwegs unbeschadet übersteht.

Interessant ist seine Reaktion auf die Schilderungen unserer Reisen in den Osten der Türkei. Auch er ist jemand, der sich schwertut zu glauben, dass man dort sicher reisen kann, immer der Hinweis auf „PKK“ und die Geste, wie wenn man den Abzug eines Gewehrs betätigt. Ohne die Lage wirklich beurteilen zu können, keimt bei uns doch der Verdacht auf, dass da zumindest Anflüge von Paranoia erkennbar sind.

Das Gewitter macht auch unsere Planung, heute mal in Gökceada-Stadt oder im Hafen zu essen, zunichte. So nehmen wir unsere letzte Mahlzeit zusammen mit einer Busladung türkischer Familien ein, die augenscheinlich auch auf besseres Wetter eingestellt waren. Bevor es ans Essen geht, schleppen Yorgo und seine Mannschaft alle Decken, Pullover und Jacken heran, derer sie habhaft werden können.

Von einem der Mädels, die Yorgo zur Hand gehen, lasse ich mir noch die Weintanks zeigen; etwa 10.000 Liter Roter lagern da zurzeit, bevor sie für ein, zwei Jahre ins Fass kommen, zudem warten noch etliche Hundert bereits abgefüllte Flaschen auf ihren Abnehmer.

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Sonntag, 6.6., Gökceada–Olimpiada (GR)

Fahrstrecke: 465 km/Fahrzeit: 6:00 h

Der Wecker klingelt ausnahmsweise – und das schon um halb sechs. Auch die Nacht hat es immer wieder geregnet. Ungefrühstückt beladen wir die Motorräder und machen uns auf in Richtung Fähranleger. Nachdem uns vor zwei Jahren auf der Strecke ein Motorrad umgefallen ist, bleiben wir diesmal, nachdem wir uns mit Tee und Toasts versorgt haben, gleich auf dem Fahrzeugdeck. Von Kabatepe aus geht es die Gallipoli-Halbinsel hoch, bislang noch fast trocken. Schon gegen elf Uhr haben wir die Grenze passiert, immer hat es den Anschein, als ob der Regenguss sich gerade vor uns verzogen hat. Enez, den türkischen Ort nahe der Grenze am Golf von Saros, lassen wir nun doch links liegen, denn grauem Himmel und dem bleiern daliegenden Meer können wir nicht viel abgewinnen, da nutzen wir den trüben Tag lieber zum Fahren. Ab Xanthi tun sich zunehmend Wolkenlücken auf, bei freundlichem Sommerwetter fahren wir gegen 16 Uhr in Olimpiada ein. Der Ort, den wir schon vor zwei Jahren als finale Station zum Erholen genutzt hatten, liegt eingangs der Chalkidiki, also am östlichsten der drei Finger, der dann in die Athos-Halbinsel übergeht.

Sigi und Petra konnten die Lücken wohl nicht für sich nutzen, sie quartieren sich noch am Golf von Edremit ein in der Hoffnung, dass es morgen aufklart.

Loulou, die freundliche, zudem fast perfekt deutsch sprechende Patronin freut sich, uns wiederzusehen, und weist uns ein schönes Zimmer zu. (Zimmer und Hotel sind sehr stil- und geschmackvoll eingerichtet, man merkt, dass die Betreiber ihr Geschäft nicht nur als Geschäft verstehen.)

Nach Begrüßungs-Frappé und Frischmachen unterhalte ich mich ein wenig mit Loulou. Interessant sind die meist guten Bezüge zu den Wurzeln in der Türkei, die viele Griechen noch haben. Doch sowohl unsere Gastgeberin als auch später ihr Bruder sagen uns, dass sie sich nicht antun, die Orte zu besuchen, in denen ihre Vorfahren aufgewachsen sind, den Schmerz möchten sie sich doch ersparen.

Das Liotopi bietet Halbpension an, das Abendessen wird in der Taverne am Strand eingenommen. Das ist jedoch kein übliches Buffet, man speist im Grunde à la carte und kann dabei aus einer Riesenauswahl an Gerichten wählen. Was wir dann auch tun, seit vier Wochen mal wieder etwas mit Schwein. (Der Preis beträgt in diesem Jahr für zwei Personen € 77,- mit HP.) Zudem befreien uns die Damen, die in der Tavernenküche ihren Mann stehen, von dem Vorurteil, die griechische Küche sei langweilig und einseitig fleischlastig.

An diesem Ort ist es zu dieser Zeit noch sehr ruhig, kein Grund also, sich noch eine weitere Unterkunft zu suchen. Wir entscheiden uns, den Urlaub hier ausklingen zu lassen und am Freitag direkt von hier zur Spedition und dann zum Flughafen zu fahren.

Ganz nebenbei haben wir heute den 6000. Kilometer auf dieser Tour zurückgelegt.

Zum Abschied beglückt uns Loulou noch mit eingelegten Feigen, selbst gepflücktem wilden Thymian und ebenso selbst gesuchtem Kräutertee.

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Fazit

Aus Sicht des Motorradfahrers hätte es besser nicht laufen können: Wir hatten an den Moppeds keinerlei Defekte oder Ausfälle, Wartungsarbeiten beschränkten sich auf Öl- und Luftdruckkontrolle sowie der übliche Sichtprüfung. Wir können von keinerlei fahrerisch prekären Situationen berichten, nicht mal von den ansonsten fast obligatorischen Umfallern (nur der kleine Zwischenfall mit dem Schlagloch am Van). Unsere Regenkombis konnten eingepackt bleiben, auch die Hitze hielt sich in erträglichen Grenzen, unsere Fahrerkleidung fällt jedoch geruchstechnisch jetzt wohl unter die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung.

Der Gedanke, nächste Woche schon wieder im üblichen heimischen Getriebe zu sein, drückt ein wenig, andererseits wäre es schon etwas vermessen, sich angesichts einer solchen Reise, wie sie jetzt hinter uns liegt, zu beklagen.

Nur eine Frage drängt wirklich: Wohin geht es im nächsten Jahr?

 

Stand: Juni 2010